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Der Unterschied zwischen Tantra und Alltag

Für mich ist Tantra Alltag. Ich kann keinen Unterschied in meinen Tätigkeiten machen, die nicht irgendwo mit Alltag und/oder Tantra zu tun hätten. Da ich Tantra lehre und auch selbst lebe – in einer Lebensgemeinschaft mit mehreren Menschen und Kindern, ist alles Tantra.

Wenn ich nachts mit einem unserer schlaflosen Kinder spiele, bin ich als Vater oder Lehrer gefragt. Eintönige Dinge gibt es nicht und die jeden Tag anfallenden Dinge, wollen nicht nur mal eben bewältigt sein, um sie hinter sich zu bringen, sondern sie wollen gestaltet sein und das ist dann schon wieder Tantra. 

Das Essenkochen oder Zubereiten wird zum erfinderischen Geschmacksmenü. Mit Kindern zu essen ist ein Primärhappening; in der Erdbeertorte zu matschen und sie zu genießen mit Händen und Füßen. Die Räume aufzuräumen oder vorzubereiten für einen Workshop oder eine Session in Massage oder Therapie ist auch schon Tantra. Briefe zu beantworten oder in Büchern zu wühlen nach Quellen und Hinweisen ist alles im Zusammenhang mit Tantra. Auch dann, wenn ich vor der Kamera stehe und Fragen zu Tantra beantworte, die sich dann genau wieder um jenen sogenannten Alltag drehen. Fragen der Leute beantworten, die nicht wissen, wie sie Tantra in ihre Leben bringen können.

Nur Amtsgänge und Rechnungen bezahlen betrachte ich als untantrisch.

Das wesentliche Zu-Hause-Gefühl habe ich mitten im Workshop, der in unseren eigenen Räumen stattfindet. In unserer Küche wird gegessen, in unseren Bädern geduscht.

Tantra und Spiritualität

Spiritualität kann ich nicht praktizieren. Meditationstechniken sind für mich therapeutische Hilfen für Leute, die ihr Leben nicht bewusst zu leben wissen. Für mich sind sie keine Lebenserleichterung. Das scheint mir ein generelles Missverständnis der Esoterik zu sein. 

Zum Beispiel fege ich die welken Blätter unserer Mangobäume. Das ist eine Meditation, wo mir manchmal Gedanken kommen und manchmal eine wohltuende Stille im Gehirn Platz nimmt, die mich selbst und mein Leben sowieso immer durchdringt. Oft nehme ich sie aber nicht wahr, weil ich zu schnell bin oder zu laut. 

Und wenn ich der durchgegangenen Sau, die durch den Gemüsegarten wühlt mit wüstem Geschrei hinterherrenne, Kilometer weit am Strand lang, bis sie wieder im Pferch ist, dann hängt mir die Zunge raus und ich habe meinen aufgestauten Ärger, der sich wie Zahnstein angesammelt hatte, rausgeschrien und lache, weil die dumme Sau mich mit Kratzfuß anglotzt und sich einbildet, sie hätte das Wettrennen gewonnen.

Nein, ich kann meinen Alltag nicht leichter machen durch Spiritualität oder künstliche Übungen, wie Ausgleichssport oder Trimm-Dich-Übungen. 

Ein Tantrisches Ritual mache ich nicht täglich – es kommt eher selten vor. Was ich da zu tun habe ist, den Alltag zu vergessen, bis ich Niemand mehr bin und mich dann mit meiner Shakti oder der Stille sexuell zu vereinigen bis zur Ekstase.

Darin erkenne ich dann, dass ich in jedwedem Alltag in der Vereinigung bin mit irgend etwas oder irgend jemandem und mit allem: dem Laub, der Sau oder dem Hauswart oder meinem Freund. Es bedeutet, in Ekstase zu sein, gleichgültig was wir dabei praktisch tun. Das Tun verändert seine unpersönliche Qualität dadurch, dass ich ganz darin aufgehe, mitsamt meiner sexuellen Spiritualität und meiner Kraft, bis zur Erschöpfung.

Gibt es verschiedene „Alltage“?

Da ich keine Wochentage kenne und keine Feiertage, ist jeder Tag gleich voll mit Leben, mit Arbeit, mit Sex und mit Liebe und mit Schlafen und Essen. Es gibt auch keinen Wochenanfang oder Ruhetage.

Aber es gibt Tage, da möchte ich mich mir selbst mehr gönnen und das bedarf dann der Entscheidung, es auch zu tun und ist dann oft eine Entscheidung gegen etwas Anderes. Aber das ist egal wann, es kommt in Abständen vor und ist dann oftmals nach einer halben Stunde in der Sonne auf dem Balkon mit Nachdenken oder einem geilen Solof*** in der Badewanne befriedigt.

Rülpsen, Furzen und Pornographie

Es gibt Dinge, die in unserer Gesellschaft verpönt sind, zum Beispiel zu hinterfragen und sich eigene Gedanken machen und sie auszusprechen. Das ist das Gleiche wie Rülpsen oder Furzen. Ich vermeide das nicht. Wo ich weiß, dass es jemanden stört, entschuldige ich mich für die Störung. Aber ich unterdrücke es nicht. Kommt es zu häufig vor, dann schaue ich nach, was ich die letzten Tage gegessen habe, und ich ändere meine Essgewohnheiten. 

Es ist auch verpönt in den Badewannen bei Gastgebern zu onanieren oder die Pornos der Gastgeber unter dem Bett anzuschauen. Ich lobe meine Gastgeber, wenn sie interessante Pornos in der Videothek haben, oder das Badezimmer über einen Spiegel verfügt. Auch einen Hotelier, der in den Nachttischschubladen Präservative bereitlegt, statt der Bibel, bekommt einen lobenden Eintrag ins Gästebuch. Aber ich beschwere mich über Betten mit breiten Ritzen.

Sexualität im Alltag – alltägliche Sexualität

Für mich gehört Sex zum Alltag, seit ich acht Jahre alt bin, also seit gut fünfzig Jahren und er ist mir noch nie langweilig geworden. Wie ich das geschafft habe, weiß ich nicht. Ich wüsste auch nicht, was an Sex jemals langweilig sein könnte. Eher noch an unsexuellen Zwischenzeiten. Leute die Sex langweilig finden, machen das entweder beruflich oder sie lassen das Gefühl dabei weg oder pflegen ein schlechtes Gewissen. Das kann allerdings sehr langweilig werden, sich immer wieder ein Gewissen zu machen und trotzdem keinen Orgasmus zu haben oder keine Ekstase.

Tipps für den Alltag

  1. Höre sofort auf, alltäglich zu sein.
  2. Musst du zum Gelderwerb täglich eine Arbeit tun, die dir nicht gefällt, höre sofort damit auf und mache deine Liebhaberei zu einem Beruf, mit dem du Geld erwerben kannst. Dein Beruf sollte deine Berufung sein. Eine Berufung macht Spaß, macht geil, macht sexy.
  3. Geh in jede Tätigkeit ganz hinein, als wäre es die letzte in deinem Leben und beende sie auch, mache sind rund und ganz, bis sie schön ist.
  4. Wann immer dir nach Sex zumute ist, tu es. Warte nicht auf besondere Bedingungen oder Voraussetzungen. Das Bedürfnis nach Sex kann man nicht aufschieben. Wann immer du Hunger hast, iss. Iss aber nicht, wenn du keinen Hunger hast. Und wenn du keine Lust auf Sex hast, dann mach ihn auch nicht, auch nicht zum Gefallen deiner Partner.
  5. Verachte keine Gegebenheit als zu gering oder unwert, dir eine Erleuchtung zu verschaffen. Auch eine kummervolle oder quälende Situation, ein unbequemer Mensch, können dich zur Erleuchtung bringen.
  6. Höre auch auf, auf morgen zu warten. Das Jetzt ist augenblicklich jetzt da, und du kannst sofort unmittelbar in das Jetzt eintauchen.
  7. Stelle keine Ansprüche an Jemanden oder an Etwas.
  8. Unterdrücke deine Gefühle nicht. Es ist dazu nicht nötig, dass du sie lauthals hinausschreist, aber es ist nötig, dass du dich wirklich freust. Wenn du dich freust, oder traurig bist, oder sauer oder ärgerlich und wütend oder lustvoll und geil oder nur träumerisch, dann tu es ganz. „Und tu nicht eines Halms Gewicht hinzu, als was du fühlst …“, lässt Hugo v. Hoffmannsthal seinen König sagen in „Der Kaiser und die Hexe“. Wenn dir ein Essen nicht geschmeckt hat, sag zum Kellner nicht „es geht, danke“ und wenn du beim Vögeln keine Lust hast, tu nicht so, als hättest du einen kosmischen Orgasmus.
  9. Unterdrücke die Gefühle anderer Menschen nicht. Wenn sie traurig sind, fühle mit ihnen und wenn sie high sind, freu dich für sie, dass sie glücklich sind.
  10. Sei schamlos glücklich! Das Einzige, was sich schämen müsste, ist das Unglück.

Text: Andro (um 1999 in einem Radiointerview, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Antinous-Gemeinschaft, Berlin)

Webseite: https://diamond-lotus.de/    

Mein spiritueller Alltag
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Andro

Andro ist der wohl bekannteste Tantrameister Deutschlands. Er studierte byzantinische Massageformen im Norden der Türkei. Seine weitere Ausbildung absolvierte er am Medical Center des Dalai Lama und studierte Yoga in Poona. Er war ordinierter Zen-Mönch und Meister des Bogenzen. Andro entwickelte eine eigenständige Form des Tantra, entwickelte die sowohl energetische, wie auch sinnliche Yin-Yang-Massage, die Erotische-Tantra-Massage und das Tantra-Yoga. Er verließ diese Welt am 22.12.2019.

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2 thoughts on “Mein spiritueller Alltag

  • 26. Oktober 2022 um 10:29
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    Wie schön dich wieder einmal zu hören lieber Andro!! Du bist so authentisch, unkonventionell und eine riesige Inspiration. Und das wirst du für mich auch immer bleiben. Danke dem Diamond Lotus Team für die Veröffentlichung dieses tollen Textes!
    Wer mehr lesen möchte von Andro: in meinem Christine Janson Verlag hat Andro in den letzten Jahren vor seinem physischen Tod noch drei Bücher veröffentlicht. Einfach mal bei http://www.christinejanson.de vorbeischauen.
    Ganz liebe Grüße von
    Christine

    Antworten
    • 26. Oktober 2022 um 10:51
      Permalink

      Danke für den Hinweis auf Andros Bücher, Christine!
      Seltsamerweise finde ich nur eines davon auf Deiner Seite …
      Aloha, Klaus

      Antworten

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