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Tantra genießt, was ethische Standards in der Leitung von Seminaren angeht, leider nicht den besten Ruf. Das betrifft den Kontakt zwischen Leitenden und Teilnehmenden, aber auch mangelnde Achtsamkeit gegenüber individuellen Grenzen.

Aus meiner Sicht könnte selbstverständlich sein, dass jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer eines Tantra-Seminars jederzeit selbst darüber entscheiden kann und darf, mit wem er oder sie sich auf was wie weit einlassen möchte – oder auch nicht. Das betrifft insbesondere auch die Wahl der Kleidung – oder genauer gesagt: der Entkleidung – und die Frage, von wem ich körperlich berührt werden und wen ich selbst wie und wo berühren möchte, von Vögeln mal ganz zu schweigen.

Respekt für Grenzen

Leider scheint der Respekt für Grenzen im Tantra nicht selbstverständlich. Dafür gibt es Gründe:

  1. Mangelnde Qualifikation und Trauma-Sensibilität in der Leitung. Darauf gehe ich hier nicht weiter ein, es ist ein weites Feld.
  2. Es macht die Leitung einer Gruppe nicht unbedingt leichter, wenn jede(r) seine Grenzen setzen darf. Eine Übung so anzuleiten, dass deren Intensität individuell dosiert werden kann, entmutigt möglicherweise diejenigen, die gerne mal über ihre Grenzen hinweggetragen werden.
  3. Partnerwahlen für Übungen und Rituale werden möglicherweise komplizierter. Wenn ich den Zufall entscheiden lasse, wer mit wem welche Übung macht, erspare ich mir Situationen, in denen es nicht aufgeht, weil z.B. zwei übrig bleiben, die sich nicht wollen. Aus meiner Sicht wäre es aber angemessen, das Einverständnis für den Zufalls-Modus vor einer Übung einzuholen oder dies bereits in der Ausschreibung tranparent zu machen.
  4. Besonders krass wird es, wenn mangelnder Respekt für individuelle Grenzen von Seiten der Leitung ideologisiert oder spiritualisiert wird. Das klingt dann beispielsweise so: „Vertraue! Du bekommst nicht immer, was du willst, aber immer das, was du brauchst!“ oder „Tantra bedeutet, deine Lust und Liebe absichtslos zu verschenken. Das kannst du mit jedem Partner oder Partnerin lernen. Lerne, deine persönlichen Vorlieben loszulassen und echte, universelle Liebe zu entwickeln!“ Klingt gut, oder?
  5. Wer auf diese Weise Vertrauen ins Leben aufbauen oder universelle Liebe entwickeln möchte: Go for it! Aber kann, darf oder sollte die Leitung jemanden subtil dahingehend manipulieren oder gar nötigen? Ich finde: Nein!
  6. Nun könnte man einwenden: Persönliche Grenzen sind oft nichts anderes als verinnerlichte, nicht selten sexualfeindliche Elternbotschaften. Wir tun niemandem einen Gefallen, wenn wir sie nicht ermutigen, derartige Tabus zu überwinden.
    Gut gebrüllt, Löwe! Aber kennst du auch den Unterschied zwischen Ermutigung und Manipulation oder gar Nötigung per Gruppendruck? Er liegt darin, wer in letzter Instanz entscheidet und damit die Verantwortung trägt. Einer Teilnehmerin die Verantwortung abzunehmen, eigene Tabus zu überwinden, mag kurzfristig Freude aufkommen lassen, auf Dauer aber werden alte, von außen übernommende Glaubenssätze nur durch neue ersetzt und die Person bleibt abhängig, anstatt sich selbst zu ermächtigen, neue Wege zu gehen.

Wenn der Seminarleiter mit der Teilnehmerin …

Noch brisanter wird das Thema Grenzen, wenn es um intimen Kontakt zwischen Seminarleiter und Teilnehmerin geht – oder umgekehrt. Warum ist intimer Kontakt hier auch bei beiderseitigem Einverständnis problematisch? Die Leiterrolle bringt unweigerlich Projektionen mit sich. Eine Teilnehmerin hat möglicherweise als Mädchen gelernt, dass sie Papas Aufmerksamkeit besonders dann bekommt, wenn sie sich kokett verhält, ihren Ausdruck also subtil oder gar offen erotisiert. Nun überträgt sie das auf den Tantralehrer, der ihre sexuelle Energie spürt, sich darüber freut und mit seiner eigenen sexuellen Lust darauf antwortet. Was er dabei übersieht: Die erotische Anziehung ist nicht die einer erwachsenen Frau, sondern die eines Kindes oder Teenagers, der gelernt hat, erotische Signale für emotionale Bedürfnisse einzusetzen.

Ob das jeweils auch für den Kontakt mit Assistent*innen gilt oder mit einem gewissen Abstand zum Seminar, das ist eine interessante Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Wir bewegen uns hier in einer Grauzone. Meine heutige Partnerin war früher Teilnehmerin, das ist kein Geheimnis. Auch viele meiner heutigen Freunde waren mal Teilnehmer*innen meiner Workshops und Trainings. Es ist in meiner Erfahrung nicht leicht, aber durchaus möglich, aus den Projektionen hinauszuwachsen, die die Konstellation Leiter / Therapeutin und Teilnehmerin / Klient mit sich bringt. Wichtiger als starre Verbote sind hier Bewusstheit, Transparenz und die Bereitschaft zur Selbstreflektion.

In einem aktuellen Geschehen oder zeitnah zu einem Tantraseminar halte ich intimen Kontakt zwischen Leitung und Gruppenteilnehmer*innen für problematisch bis unverantwortlich. Da diese Prozesse oft unbewusst ablaufen, ist das Einverständnis der Teilnehmerin vergleichbar dem Einverständnis eines Kindes, Sex mit Erwachsenen zu haben. Das ist kein echtes Einverständnis, sondern führt regelmäßig zu Missbrauch, zumal die Unbewusstheit oft auch auf Seiten der Leiter*in liegt. Wer gesteht sich schon gerne ein, dass die eigene Attraktivität wesentlich mit seiner/ihrer Rolle zu tun hat?

Das ist keine graue Theorie, ich habe diese Dynamik oft beobachtet und einer meiner wichtigsten Lehrer hat sie oft für Rendezvous und Affären mit deutlich jüngeren Frauen genutzt. Ich würde sagen: missbraucht. Habe ich das Thema damals angesprochen? Ja, und nicht nur ich. Hat er daraufhin damit aufgehört? Nein. Habe ich ihn angezeigt oder öffentlich an den Pranger gestellt? Nein.

Bräuchte es „me too!“ in der Tantraszene?

Ich habe immer mal wieder damit gerungen, aber mich am Ende stets so entschieden, dass es nicht meine Entscheidung ist, ob ich etwas unternehme, sondern primär die der Betroffenen, die ich dann ggfs. in ihrem Anliegen unterstützen könnte. Letztlich gab es dann immer auch die Ebene, auf der die Betroffenen trotz Schmerz, Wut, Desillusionierung und vielleicht auch Retraumatisierung etwas Wichtiges für sich lernen konnten.  Immerhin.

Heißt letzteres nun: alles halb so wild? Es sind eben doch zwei Erwachsene, die das selbst miteinander aushandeln können und sollen? Schön wär‘s. Oder: dumm gelaufen. Dann nämlich hätte Tantralehrer noch viel mehr zu meinem Traumberuf werden können, bei so vielen attraktiven Frauen, die gerne mal mit dem Tantralehrer …

Ich rechne es mir nicht so hoch an, dass ich dieser Versuchung widerstanden habe, denn für mich war es selten eine echte Versuchung. Ich stehe nicht drauf, wenn ich nicht persönlich gemeint bin, sondern eher die Projektion, die ich auf mich ziehe. Ich beobachtete aber des Öfteren andere Seminarleiter und auch Seminarleiterinnen, die ziemlich darauf abzufahren schienen, bewundert oder angehimmelt zu werden, auch wenn die Bewunderung gar nicht ihnen selbst galt, sondern eher der Rolle. Ob sie sich das jeweils selbst eingestehen? Ich weiß es nicht. Oder glauben sie vielleicht, Sex mit ihnen haben zu dürfen sei eine Art tantrischer Gnade, die sie ihren Schülerinnen zuteilwerden lassen? Als eine Art kostenlose spirituelle Sexarbeit?

Die Alarmglocke

Okay, meine Ironie wird langsam zynisch, ich sollte aufhören. Aber vielleicht eines noch: Wenn es heimlich läuft, wenn der Leiter z.B. sagt: „Du darfst niemanden davon erzählen, weil, die Gesellschaft ist noch nicht soweit und deswegen versteht das niemand …“ Dann sollten die Alarmglocken hell und deutlich klingeln.

Was denkst du darüber? Wie sehen deine Erfahrungen aus? Hinterlasse gerne deinen Kommentar gleich hier unten.


Text: Saleem Matthias Riek

Website: www.schule-des-seins.de

Erotisches Einverständnis und seine Grenzen
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Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist 1959 geboren, Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge, Buchautor und lebt bei Freiburg im Breisgau. Seit 1986 erfolgreiche therapeutische Arbeit mit Einzelnen und Gruppen, seit 1992 mit den Schwerpunkten Liebe, Erotik, Paarbeziehung und Tantra, seit dem Jahr 2000 auch in der Ausbildung von Gruppenleitern tätig. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Weitere Bücher, darunter ein Roman, sind in Vorbereitung.

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6 thoughts on “Erotisches Einverständnis und seine Grenzen

  • 31. Mai 2024 um 11:48
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    Danke für diese Klarstellung wieder mal. Die braucht es von Zeit zu Zeit. Und die muss dringend und deutlich in den Ausbildungen mehrmals und bei jedem Modul erneut behandelt werden.
    Ja leider kam ich mir öfters als Spielverdetberin vor, wenn ich Übungen nicht machte, rsp so modifizierte, dass sie für mich mit diesem Zufallspartner möglich war. Ja in den Tantra-Massagekursen wird NEIN sagen und NEIN kommentarlos respektieren nicht als Grundregel laut und deutlich deklariert. Tantra ist tatsächlich zu gratis-sex-workshop mutiert. Ich besuche deshalb keine Tantra-Seminare mehr.

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  • 11. Juni 2024 um 0:40
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    Ich freue mich sehr über diese Stellungnahme. Ich kann dem nur zustimmen, dass hier auf der einen Seite leicht eine Projektion vorliegt, und dann ist Missbrauch und Macht-Missbrauch der richtige Ausdruck dafür. Bei Ärzten, Therapeuten und Seelsorger gibt es hier klare Regeln und Grenzen. Und die sollten bei Tantraseminaren genauso klar und deutlich gelten. Hier werden Räume geschaffen, in denen man sich entfalten und ausprobieren kann: enger oder weiter; zurückhaltender oder mutiger; aber immer muss auch gewährleistet sein, dass dieser Raum stets den ausreichenenden Schutz bietet. Nur so kann man sich sich – und das betrifft meist mehr die Frau – auch geborgen fallen lassen. Leiterinnen und Leiter sollen hier wie Felsen in der
    Brandung stehen und den Mut oder bisweilen auch den Übermut der mutigen TeilnehmerInnen professionell, gekonnt und dennoch mit warmem Mitfühlen vorbei- und weitergleiten lassen. Alte Glaubenssätze lassen sich nicht so einfach ablegen oder überschreiben; und hinterher kann dann das Leiden, der Kummer, die Gewissensnöte oder Selbstvorwürfe eine traurige Nachwirkung sein.
    Ich bewundere deine klare Haltung – wie du schreibst – dass du hier deiner Überzeugung treu geblieben bist – und wenn man es am Ende betrachtet: dann hast du nichts versäumt oder verloren, nur gewonnen.

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  • 11. Juni 2024 um 15:35
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    Danke, Saleem, für Deinen Text. Ich selbst habe mich in den von Dir geführten Seminaren nie in irgendeiner Weise genötigt gefühlt, etwas zu tun, das ich nicht wollte, was sicher auch mit Deiner „enthaltsamen“ Art der Leitung zu tun hatte – aber es war auch der Grund für mich, nirgendwo anders hinzugehen, denn ich habe sehr wohl auch schon diese „versteckte“ Manipulation beobachtet und gespürt – „Trau Dich, geh über Deine Grenzen, es ist mit jedem möglich…“ – kann sein, dass es so ist in diesem Raum in dem alles eins wird und Gegensätze keine mehr sind, sondern nur unterschiedliche Formen des Einen Unergründlichen – aber die Erfahrung ist: Man verlässt diesen Raum wieder. Und trifft vielleicht die Person mit der… irgendwann im Supermarkt. Ist es dann auch noch ok gewesen? Und ich bin lange genug in der Traumaarbeit gewesen um zu wissen: Gerade Opfer von Übergriffen traumatischer Art sind eben oft NICHT in der Lage, ihre Grenzen zu spüren und zu benennen – da braucht es sehr viel behutsame Unterstützung eine Person zu ermutigen, NEIN zu sagen – es kann eben unbedingt auch eine Bewusstseins- Weiterentwicklung sein, zu spüren, dass man etwas NICHT will. Bei mir war es das Thema „Bindung“ : Ich habe irgendwann erkannt, dass ich gar nicht viele unterschiedliche Partner (mehr) will – sondern den einen. Den, der mich wirklich als Person ganz und gar liebt. Und ich bin sehr glücklich mit diesem Menschen….

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    • 15. Juni 2024 um 13:28
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      Danke, Christine!
      Ich räsoniere ganz mit dem, was du zur „enthaltsamen Art“ der Seminarleitung sagst, ich sehe das als ethischen Beitrag der Leitung zu einem geschützten Seminarrahmen. Und es spricht mir aus dem Herzen, dass nicht alle Menschen, und gerade besonders vulnerable Menschen überhaupt und ad hoc in der Lage sind, Grenzen als solche zu spüren und zu benennen. Eine Grenze zu setzen, wenn man nicht gerade explizit danach gefragt wird, ist üblicherweise verbunden mit Disharmonie, (innerem) Stress, einem Moment von Ausbruch aus. Das braucht Mut und Energie im richtigen Moment.

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  • 12. Juni 2024 um 9:54
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    Hallo Saleem,

    ich möchte mich gerne zum Thema erotischer Kontakt zwischen Leitenden und Teilnehmern äussern. Davon ausgehend, dass alle Teilnehmer über 18 Jahre alt, also volljährig sind und nicht wegen psychischer Probleme, die eine therapeutische Behandlung eines Psychologen benötigen, an solch einem Seminar teilnehmen, sehe ich keinen Grund das Lehrende und Teilnehmer sexuellen Kontakt während des Seminars oder danach nicht haben könnten.
    Das Thema, und du hast es ja auch schon angesprochen, ist sicherlich grenzwertig. Manipulation seitens der Lehrenden können immer vorkommen auch wenn sie es natürlich nicht sollten. Deshalb, und weil es menschlich ist, kann man das Thema nicht generalisieren sondern sollte den Einzelfall betrachten. Aber wie habe ich schon in meinem ersten Tantra Seminar gelernt, ich kann ja immer NEIN sagen! Ich habe schon das eine oder andere Mal im Nachhinein gedacht, dass ich vielleicht zu der Übung hätte NEIN sagen sollen und daraus gelernt, wenn ich diese Übung noch einmal machen sollte, mich dagegen zu entscheiden. Ich war auf jeden Fall um eine (vielleicht wichtige) Erfahrung reicher. Wenn in Teilnehmern alte Verletzungen/Traumata aufkommen sollten, dann sollten sie sich ihrer eigenen Verantwortung für das eigene Leben bewusst sein und nicht Aussenstehende verantwortlich machen. Aber vor dem Nein sagen sollte sich jeder Teilnehmer überlegen ob er nicht den Mut aufbringt erst mal JA zu sagen! Mut, Neugier, Vertrauen, Liebe, das macht für mich Tantra aus.
    Andreas

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  • 15. Juni 2024 um 14:13
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    Danke Saleem, ich finde deinen Aspekt, dass Teilnehmende und Seminarleitung in diesen Rollen sich nicht als Erwachsene auf Augenhöhe gegenüber treten, sehr treffend. Und wichtig, dass diese Perspektive benannt wird und Aufmerksamkeit bekommt.

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