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Was aber der Sex verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.[i]

Ob wir nun an Gott als eine höhere Macht glauben oder nicht, Sex scheint auf jeden Fall eine höhere Macht zu sein. Und eines der Phänomene beim Sex, die wir gewöhnlich nicht steuern können, ist das Ausmaß an Bindung, das dabei entsteht. Lassen wir mal die moralischen Vorschriften beiseite, die Sex nur im Rahmen einer legitimen Verbindung erlauben, dann machen wir doch meistens die Erfahrung: Nach einer sexuellen Begegnung bleibt etwas zurück. Vielleicht ist es nur ein schales Gefühl, vielleicht schmachten wir aber auch nach mehr oder haben uns verliebt. Wie kommt das, was geht da ab? Mit diesem Text möchte ich keine Fragen beantworten, sondern ermutigen, relevante und wegweisende Fragen zu stellen.

Hast du schon mal gehört, dass eine Frau mit dem Sperma eines Mannes auch dessen DNA in sich aufnehme und so schnell nicht wieder loswerde? Es gibt die These auch in einer feinstofflichen Variante, als einem energetischen Abdruck, der trotz Verwendung eines Kondoms zurückbleiben kann. Auch dabei wäre tendenziell die Frau die leid- oder glückstragende, insoweit sie jemanden in sich hinein lässt. Aber auch Männer können – bewusst oder unbewusst – energetische Folgen davontragen.

Manch einem kommt es allerdings auch so vor, als bliebe nichts zurück. Vielen Dank, tschüss und das war’s. Wäre dies ein Zeichen der Reife, der Überwindung jeder Anhaftung (im Buddhismus eine der Hauptursachen des Leidens)? Oder sollten wir Bindungslosigkeit eher als Symptom einer Dissoziation interpretieren, einer inneren Spaltung, die uns gegenüber den subtilen Prozessen intimer Begegnung unempfindlich macht?

Wie auch immer wir Bindung erklären und bewerten, sie ist nicht das Gleiche wie Verbundenheit. Letztere ist eine Erlebnisqualität im Hier und Jetzt, Bindung hingegen ist auf Kontinuität angelegt. Es ist wie bei einem Seil: Einmal festgebunden, können wir es nicht einfach loslassen, es braucht zuerst eine Lösung. Auch Art und Dauer einer Bindung sind nicht immer gleich, es gibt verschiedene Intensitätsgrade sowie positive und negative Bindungen. Letztere können sich darin äußern, dass wir einer Person aus dem Weg gehen, was sich dann nicht gelöst, sondern eben negativ gebunden anfühlt.

Besonders brisant sind geschlechtsspezifische Unterschiede im Bindungsverhalten, auch wenn diese zunehmend aufweichen. Evolutionsbiologen wollen uns weismachen, vor allem das Erbe unserer steinzeitlichen und affigen Vorfahren steuere unser Sexual- und Bindungsverhalten. Ihrer Ansicht nach brachte es dem Mann evolutionäre Vorteile, seinen Samen breit zu streuen, während die Frau und ihr Nachwuchs bessere Überlebenschancen hatten, wenn sie wählerischer war.

Das kann man glauben, muss man aber nicht. Hilfreich ist die Herleitung aus der grauen Vorzeit meiner Ansicht nach sowieso kaum, wirkt sie doch erstens wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, indem sie klischeehaftem Verhalten Auftrieb gibt, und zweitens verstellt sie den Blick auf das, was wir doch in uns selbst erforschen und einfühlen können.

Und das ist eine ganze Menge! Tantrakurse sind dafür ein hervorragendes Forschungsfeld mit ihrem oft multidiagonalen Beziehungschaos, das sie in kürzester Zeit anrichten können. Leider wird das tantrische „Forschungslabor“ selten dazu genutzt, sich zu fragen: Wie entsteht Bindung? Hängt sie mehr mit dem Sex oder mehr mit dem Herzen zusammen und was übernimmt hier die Führung? Wieso kann ich nach der einen Begegnung gut loslassen, nach der anderen aber nicht? Das fängt schon beim Tanzen an. Mal entsteht dabei mehr, mal weniger Bindung. Woran liegt das? Und noch interessanter: Können wir das selbst steuern? Was bräuchte es dazu? Und was heißt das für die Frage, auf wen ich mich in einem tantrischen Ritual wie weit einlassen möchte?

Bindung entsteht nicht zuletzt aus Hoffnungen und Erwartungen. Hege ich – bewusst oder unbewusst – die Hoffnung, dass mir jemand bestimmte Bedürfnisse auch in Zukunft erfüllen kann, binde ich mich, und dies umso mehr, je dringender mein Bedürfnis ist und je geringer die Chance, sie anderweitig erfüllt zu bekommen. Gehe ich jedoch davon aus, dass mir weitere Begegnungen Schmerz oder Unwohlsein bereiten werden, meide ich die Person, binde mich also negativ. Offen kann ich am ehesten bleiben, wenn ich genug Vertrauen in mir finde, so oder so für meine Bedürfnisse und Grenzen sorgen zu können.

Nun ist das nicht leicht. Wir wissen alle, dass Hoffnungen und Erwartungen enttäuscht werden können. Manchmal steckt sogar System dahinter: Beim nächsten Mann / bei der nächsten Frau wird alles anders? Denkste! Psychologen sprechen von Bindungsmustern, die mit ihrem Wiederholungszwang aktuellen Bedürfnissen im Wege stehen. Bevor wir Muster ändern können, müssen wir sie allerdings erstmal erkennen. Aber wie?

Das Thema ist komplex, viel zu komplex für einen Newsletter. Ich werfe daher vor allem Fragen auf um zu ermutigen, selbst neugierig zu forschen (meine Antworten folgen dann in dem Buch, an dem ich zu diesem Thema arbeite). Du könntest z.B. im nächsten Tantrakurs genau beobachten, wie Bindungen entstehen – oder auch nicht. Am Anfang sind dir die meisten Leute fremd, aber dann geht es los: Mit ihr würdest du gerne die nächste Übung machen, mit ihm lieber nicht. Du erlebst eine schöne Begegnung, aber danach brauchst du Abstand. Oder es geschieht gerade das Gegenteil und du fragst dich, wie du signalisieren kannst, dass da noch mehr geht. Und am Morgen danach? Das Begegnungspotenzial in einem Workshop ist groß, willst du trotzdem mit ihm frühstücken? Wann fragst du nach der Telefonnummer, wann machst du einen Heiratsantrag? 🙂

Meistens geht’s nicht so schnell, aber es gibt einiges zu entdecken. Wenn du herausgefunden hast, welche Muster dich immer wieder einholen, geht’s erst richtig los. Wie kannst du selbst daran mitstricken, wann, wie und mit wem welche Art von Bindung entsteht? Kannst du Bindungen auch wieder loslassen, sie verabschieden? Und damit ist nicht gemeint, sie zu verleugnen oder gewaltsam zu durchtrennen!

Um solche Fragen näher untersuchen zu können, müssen wir die unmittelbare erotische oder sexuelle Erfahrung von dem damit verknüpften Bindungsgeschehen unterscheiden lernen und dieses mit etwas Abstand betrachten. Geilerer Sex schafft nicht unbedingt die stärkere Bindung. Bindung entsteht nach eigenen Gesetzen, mit einer eigenen Dynamik, sie verbindet unsere Gegenwart mit unserer Vergangenheit und Zukunft, während es im Sex um die Präsenz im Hier und Jetzt geht. Nur wenn wir die Bindungs-Dynamik von der Dynamik im Sex (die wie Elektrizität durch Polarität induziert wird) unterscheiden lernen, können wir sie als eigene Dimension bewusst würdigen, erforschen und gestalten.

Die Dynamik von Bindung unterscheidet sich übrigens auch von der Dynamik des Herzens, in der es eher darum geht, anzunehmen und zu umarmen, was ist. Auch damit ist sie oft verknüpft, denn wir binden uns gerne an jemanden, der uns annimmt, wie wir sind. Doch Bindung ist etwas Drittes. Sie schleicht sich unbemerkt – wie im Huckepackverfahren – in die Dynamik von Sex und/oder Herz ein und wir merken es meist erst, wenn wir es nicht mehr steuern können. Dann ist zuweilen das Drama nicht mehr weit.

Doch das muss nicht so sein. Ich wünsche viel Freude beim Forschen und freue mich über eure Rückmeldungen. Wer weiß, vielleicht finden sie Eingang in mein Buch.

 

[i] (frei nach dem Matthäus-Evangelium Kap.19,6).

 

Text: Saleem Matthias Riek

Website: www.schule-des-seins.de

Was aber der Sex verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.
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Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist 1959 geboren, Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge, Buchautor und lebt bei Freiburg im Breisgau. Seit 1986 erfolgreiche therapeutische Arbeit mit Einzelnen und Gruppen, seit 1992 mit den Schwerpunkten Liebe, Erotik, Paarbeziehung und Tantra, seit dem Jahr 2000 auch in der Ausbildung von Gruppenleitern tätig. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Weitere Bücher, darunter ein Roman, sind in Vorbereitung.

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5 thoughts on “Was aber der Sex verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.

  • 26. November 2017 um 22:37
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    Harter Tobak! …auf den ersten Blick…
    Irgendwie auch anstrengend, und da will ich nicht hingucken. Bin ich wirklich in der Lage, mein Bindungsmuster zu erkennen, wenn ich noch mitten drin stecke? Ich wage zu behaupten, dass ich mein altes Bindungsmuster überwunden habe, nämlich ständig mein unerlöstes Vaterthema in anderen Männern zu wiederholen. Ich erkenne das daran, dass ich Bindung nicht mehr automatisch mit Leiden gleichsetze – dass ich mich binde als bewusste Entscheidung, und keine Angst mehr davor habe. Ein einschneidendes Erlebnis auf dem Weg dorthin war, dass ich nach einer sexuellen Begegnung mit einem Mann, wo ich klar sehen konnte, dass es meinem alten Muster entspricht, bewusst die Entscheidung traf, dass ich mich nicht verliebe. Und es hat funktioniert: Das Loslassen ging viel leichter und schneller als erwartet. Es lohnt sich, das Bindungsthema bewusst anzuschauen, und mir ist klar, dass auch das meine bewusste Entscheidung braucht. Und es braucht die Bereitschaft, mich auch schmerzhaften Erkenntnissen zu stellen, und mich von Illusionen zu verabschieden.

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  • 27. November 2017 um 8:59
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    Danke Saleem, für diese feinen und erhellenden Differenzierungen zum Thema Bindung. Das Anerkennen, dass sie auch dann da ist wenn ich sie nicht suche ist schon mal sehr hilfreich. Die Betrachtung von Bindung jenseits von all der kulturellen und gelernten Besetzung ist eine weitere aussichtsreiche Geschichte. Und beim Gestalten von Bindung wird es noch interessanter. Ich frage mich, ob die wachsende Vorliebe für Bondage mit dem Gestalten von Seilbindungen, kunstvollen Verknotungen und liebevollen Lösungen vielleicht mit einem Teil dieser Sehnsucht Ausdruck verleiht?

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  • Pingback:Wie geschieht Bindung jenseits von Bindungsmustern? | Saleem's Blog

  • 27. November 2017 um 14:21
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    Für das Gestalten von Bindung sind meiner Erfahrung nach Rituale hilfreich. Das kann zum Beispiel auch nur das bewusste Bedanken und Verabschieden nach einer Begegnung sein. In schamanischen Traditionen gibt es Rituale um die „Fäden“ abzuschneiden, die uns an andere Menschen binden. Auch in unserer Kultur werden Bindungen und Bündnisse geschlossen, besiegelt und gefeiert. Leider gibt es (noch) kaum Bräuche zum Lösen von Bindung. Da fällt mir gerade nur das Durchtrennen der Nabelschnur ein, das heute sogar im Krankenhaus einen gewissen rituellen Charakter hat, wenn es durch den Vater und nicht durch den Arzt / die Ärztin durchgeführt wird.

    Mein Mann und ich haben nach dem Tantra-Seminar bewusst Bindung entstehen lassen, weil wir beide es wollten und dazu bereit waren. Der Heiratsantrag kam dann zwei Jahre später! 😉

    Alles Liebe
    Brigitte

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  • 24. Januar 2018 um 16:18
    Permalink

    Bindung hat auch was mit Sättigung zu tun. Bin ich satt in einer Bindung so gehe ich vielleicht ein Abenteuer ein aber keine Langzeitbindung. Die andere Person, die vielleicht keine feste Nährbindung hat oder in einer Unbefriedigten ist, wird sich dann evtl wie ein freies Radikal benehmen und überrascht sein, dass der Einsatz an Zuwendung und Sex nicht genügend gewürdigt wurde. 🙂
    Ich finde vor allem Forenbeträge von Frauen traurig, die doch so viel gegeben haben und dann abserviert werden. Vielleicht solltet Ihr unter Eurem wiedergekäutem „Ich bin so frei“ und „polygam“ doch noch mal reflektieren, was Ihr für Mütter hattet, die Euch die Kostbarkeit von Hingabe und diese zu schützen und nicht zu inflationieren nicht mitgegeben haben.

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