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Aus der Verletzung in die Freiheit

Männer – Frauen – Menschen

Gibt es den hundertprozentigen Mann oder eine hundertprozentige Frau? Wenn wir manchen zwielichtigen Pickup-Artist-Manualen oder den Heilsversprechen mancher Männer- oder Frauencoaches Glauben schenken wollen, dann ja! Sogar die Tantraszene beruft sich auf pauschalisierende Aussagen wie „die wichtigste Eigenschaft des Mannes ist die Präsenz“ und „die wichtigste Eigenschaft der Frau ist die Hingabe“.  Daraus ließe sich logischerweise schlussfolgern, Hingabe sei nichts für Männer und Präsenz eher unwichtig für Frauen. Tatsächlich leben beide Anteile, beide Polaritäten in jedem Menschen. Mehr oder weniger. Und die individuelle Mischung macht jeden Menschen einzigartig.

Eine Erfahrung aus der Praxis

In den Seminaren des westlichen Neo-Tantra ist eine beliebte Variante, Männer und Frauen für einige Zeit zu trennen, um die beiden Gruppen in einem beeindruckenden und berührenden Ritual wieder zusammen zu führen. Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit und Ehre, in einem solchen Setting die Männergruppe von annähernd 50 Männern anzuleiten. Meine Aufgabe war, die Männer auf das Ritual, das der Wiedervereinigung von Männern und Frauen folgen würde  vorzubereiten. Ein Ritual, in welchem die Ritualpartner sich gegenseitig zeigen und lehren, welche Berührungen ihnen gut tun, um sie anschließend vom Ritualpartner zu empfangen.

Gefühle zeigen

Meine Beobachtungen damals entsprachen durchaus den gängigen Klischees: vielen Männern fiel es schwer herauszufinden, welche Berührungen ihnen gut tun. Sich selbst zu berühren, zu streicheln oder gar sich selbst Lust zu bereiten, war von reichlich Scham und Tabus belastet. Da hilft auch das Angebot, die Selbsterforschung unter einem großen Laken zu betreiben wenig. Denn im nächsten Schritt ging es in der Vorbereitung des großen Rituals darum, sich diese Berührungen gegenseitig zu zeigen. Die Einladung anzunehmen, gegenseitig voneinander zu lernen und Anregungen zu bekommen, welche anderen Möglichkeiten der Berührung vielleicht ebenfalls Wohlgefühl oder gar Lust auslösen könnten, brachte einen Großteil der Männer schon an ihre Grenzen.

Angst, als schwul zu gelten

Der nächste Schritt der Übung, die eigenen Wohlfühlberührungen am männlichen Gegenüber zu zeigen, löste in vielen Männern großen Widerstand aus. „Ich bin doch nicht schwul“ – dieser Satz stand, wenn auch unausgesprochen, deutlich im Raum. Ein Mann protestierte sogar lauthals und weigerte sich standhaft, sein Gegenüber anzufassen oder sich anfassen zu lassen. Einige Tage später erfuhren wir seine Geschichte: er war in einem katholischen Internat von einem Erzieher sexuell missbraucht worden.

Hier zeigt sich die ganze Tragik der besonders unter Männern verbreiteten Homophobie. Zwei Jahrtausende katholisch-christliche Dogmen und Moralvorstellungen prägen unser kollektives Gewissen. Und die Tabuisierung männlicher Homosexualität (und deren strafrechtlicher Verfolgung) erzeugt gleichzeitig eine Anziehung besonders auf jene, die uns diese Glaubenssätze vermitteln. Alles was wir unterdrücken oder negieren, versucht dennoch auf Umwegen seine Seinsberechtigung zu manifestieren.

Mit freundlicher Genehmigung aus dem Buch huMANNoid – Männer sind Menschen von Eilert Bartels

Verletzungen heilsam begegnen

Um uns wirklich vorurteilsfrei, herzoffen und unvoreingenommen als Menschen begegnen können gilt es, unsere Verletzungen anzusehen und ihnen heilsam zu begegnen. Damit meine ich nicht nur die Verletzungen auf körperlicher, emotionaler und seelischer Ebene des einzelnen Individuums, wie Missbrauch oder Vergewaltigung. Ebenso tragen kollektive Verletzungen dazu bei, die freie Begegnung von Mensch zu Mensch zu erschweren. Mit kollektiven Verletzungen meine ich beispielsweise die Jahrtausende lange Unterdrückung des Weiblichen, Verfolgung und Verurteilung von Homosexualität, Ausgrenzung von transidenten Menschen oder zwangsweise erfolgte Geschlechtsangleichung intersexuell geborener Menschen.

Gerade die Auseinandersetzung mit kollektiven Verletzungen erfordert in einem ersten Schritt die individuelle Öffnung in einer Gruppe dieses Kollektivs. Das kann eine Selbsthilfegruppe, ein Männerzirkel, ein Frauenkreis oder ein Trans*Treff sein. Wichtig ist die Erfahrung, sich innerhalb dieser Gruppe verstanden und angenommen zu fühlen in seinem So-Sein. Diese Erfahrung fördert das Selbstverständnis und stärkt das Selbstwertgefühl.

Tantra nicht nur für Männer und Frauen

Tantra für Männer, Tantra für Frauen, Tantra für Diverse – jede Diversifikation hat ihren Sinn und unterstützt die heilsame Annahme kollektiver Verletzungen. Auch Verletzungen innerhalb der persönlichen Historie können hier vorbereitend aufgearbeitet werden. Die Überschreibung schlechter Erfahrungen  und damit verbundener Glaubenssätze geschieht jedoch in der Begegnung in gemischten Gruppen, die das wirkliche Leben repräsentieren. Dann erst kann sich die Philosophie des Tantra wahrhaft beweisen.

Die Welt und das reale Leben sind überraschend vielfältig. Lasst es uns erforschen – unvoreingenommen, neugierig und offen für alles, was es uns zu bieten hat!

Text: Klaus Gabriel Peill

Webseite: www.quinta-essentia.de

Aus der Verletzung in die Freiheit
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Klaus Peill

Klaus Gabriel Peill, Jahrgang 1961, Tantra- und Reiki-Lehrer, Familiensteller und spiritueller Wegbegleiter. Als ausgebildeter Bankkaufmann, Elektroingenieur und Tonmeister war er 20 Jahre in der Vermarktung professioneller Audiotechnik tätig. Seit April 2010 selbständiger Gesundheitspraktiker (BfG) mit Schwerpunkt Persönlichkeitsbildung leitet er Seminare und gibt körperorientiertes Einzel- und Paarcoaching als Lebenshilfe und Begleitung in Lebenskrisen & Veränderungsprozessen.

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4 thoughts on “Aus der Verletzung in die Freiheit

  • 18. März 2019 um 10:54
    Permalink

    Lieber Klaus,
    alles was so ist (richtige) Frau, so ist (richtiger)Mann in Frage stellt, empfinde ich als dringend nötig.
    Und speziell im Tantra das genauso konservativ festzuschreiben oft und dann auch noch mit Verweis auf Shiva/ Shakti Energieprinzip, stellt mir immer schon die Fußnägel auf.
    Das ausschließen aller anderen sexuellen und/oder Gender Identitäten/ Ausrichtungen genauso.
    Ich plädiere für Tantraseminare in denen nicht auf Geschlechterparität geachtet wird und in denen es absolut zweitrangig ist, wie man sexuell orientiert ist und wünsche mir sehr, dass Menschen sich öffnen dafür, dass sie sich zunächst mal als Mensch und Individuum auf andere Menschen beziehen, auch körperlich, im für sie jeweils passenden Umfang, klar, aber nicht vorgegen schon allein durch TN-Lenkung oder Shiva und Shakti = so muss das sein. Zeit wird`s.

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  • 2. September 2019 um 15:42
    Permalink

    Liebe Susanne,
    wie so oft im Leben gibt es weder „richtig“ noch „falsch“. Ich bevorzuge mittlerweile Seminare mit Geschlechterparität und Wanderrituale. Das Wissen unvoreingenommen auf Männer zu treffen und nicht auf „irgendwen“ empfinde ich als sehr bereichernd. Damit möchte ich niemanden ausgrenzen! Ich kenne aber Seminare mit „Frauenüberzahl“, mit „Männerüberzahl“ und einmal war auch eine geschlechtsumgewandelte Frau dabei. Das Shiva – Shakti – Prinzip ist keine Erfindung der Neuzeit. Es basiert auf eben dieser uralten und natürlichen Einheit der Gegensätze, auf dessen Anziehung und Ergänzung. Das macht letztlich Tantra aus! Daran ist nichts konservativ. Freilich können auch Frauen- oder Männergruppen heilsam sein, ebenso Gruppen für anders Geschlechtliche. Ist das aber Tantra? Oder eher Heilarbeit, Ergänzung, Vorarbeit zur Begegnung mit dem anderen Geschlecht? Ich meine, man sollte Tantra nicht verwässern, nicht vermischen mit allem, was dort nicht hinein gehört. Ein gutes Essen wird nicht mit allen möglichen Zutaten und Essenzen besser, höchstens verwürzt und ungenießbar.

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