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Was Tantra mit Beziehungskunst und Liebeslust zu tun hat

Wenn es darum geht zu beschreiben, was „Tantra“ und die „Kunst“, eine Beziehung zu gestalten miteinander zu tun haben, komme ich nicht umhin, das Kamasutra zur Hand zu nehmen. Doch im Vorfeld will ich noch die systemischen Aspekte von Beziehung und Partnerschaft beleuchten und Selbstverantwortung und die Fähigkeit Grenzen zu setzen als unentbehrliche Voraussetzungen für eine erfüllende und gegenseitig förderliche Beziehung aufzeigen. Beziehungskunst, Tantra und Liebeslust gehen dabei Hand in Hand.

Beziehung und Partnerschaft als System

Oft wird das Wort Beziehung in der Umgangssprache mit Partnerschaft gleichgesetzt. Man ist in einer „Beziehung“. „Beziehung“, im Englischen „relation“, lateinisch „relatio“ bezeichnet das Verhältnis einer Person, eines Gegenstandes oder eines Ereignisses zu jeweils einem oder mehreren anderen. Stehen zwei oder mehr Elemente miteinander in Wechselwirkung, spricht man von einem System. „relatio“ bedeutet übersetzt „das Zurücktragen“, wodurch klar wird, dass eine Beziehung dadurch entsteht, dass die Veränderung eines Elementes eine Rückwirkung auf andere Elemente im System hat. Beim Familienstellen z. B. werden diese systemischen Wechselwirkungen deutlich sichtbar.

Partnerschaft ist also eine Sonderform von „Beziehung“. Doch selbst das Wort „Partnerschaft“ liefert immer noch viele weitere begriffliche Varianten, darunter Liebesbeziehung, (wilde) Ehe, offene Beziehung, Lebensgemeinschaft, Freundschaft+, eingetragene Partnerschaft, usw. Allen Formen gemein ist eine ursprünglich sexuelle Motivation der Beziehungsaufnahme (von reinen Geschäftspartnerschaften abgesehen). 

Hier geht es im Folgenden um die Frage, was Tantra zur Gestaltung erfüllender Beziehungen beitragen kann. Ist es tatsächlich eine „Kunst“ Beziehungen bzw. Partnerschaften zu gestalten? Und wenn ja, wie und wo kann man/frau diese Kunst erlernen? Und was hat „Tantra“ mehr zu bieten, als der Besuch bei einem Paar- oder Sexualtherapeuten?

Erfüllende Beziehungen mit Selbstverantwortung

Beziehungskunst, Tantra und Liebeslust

In der Genesis heißt es „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ (Mose 1,27). Auf diesem Bild fußt ein Glaubenssystem, das die Vereinigung von Mann und Frau auf ein Podest hebt und dieser Verbindung eine Gleichstellung mit der göttlichen Essenz zuschreibt. In der grenzenlosen Vereinigung lösen sich Mann und Frau auf und werden gottgleich – kann das funktionieren? Und wenn ja, warum nur mit Mann und Frau und nicht Mann mit Mann oder Frau mit Frau? 

Tantra macht hier keinen Unterschied. Im Tantra steht der Mensch im Mittelpunkt mit dem dreifachen Ziel der Vervollkommnung von Spiritualität (dharma), Reichtum/Erfolg (artha) und Liebeslust (kama). Um diese Ziele zu erreichen, sind Selbsterkenntnis, Selbstliebe und die Festigung eigener Grenzen unabdingbar. Der Tantriker macht sich für sein Glück, seinen Erfolg und seine Lust selbst verantwortlich. In dieser Selbstverantwortlichkeit geht er in Beziehung – bewusst, mit Grenzen und Grenzüberschreitung, bis hin zur vollkommenen Verschmelzung. Das tut er in erster Linie für sich selbst in dem Bewusstsein, dass in einer Beziehung jeder dem anderen dient, seine Ziele zu erreichen. So ist er gewissermaßen Schenkender und Beschenkter zugleich.

Wahre Begegnung entsteht an Grenzen

Was Tantra mit Beziehungskunst und Liebeslust zu tun hat

Im Alltag und in der Begegnung mit einem Partner, aber auch mit anderen Menschen ist der soziale Kontakt das wesentliche Element der Interaktion von Individuen. Sind zwei Menschen distanziert, entsteht auch kein oder nur wenig Kontakt (a). Damit Kontakt entsteht, sind zum einen Nähe, zum anderen aber auch Grenzen notwendig (b). Warum? Nur an Grenzen kann wirklicher Kontakt entstehen. Nur innerhalb seiner Grenzen kann ein Mensch sich selbst fühlen und wahrnehmen. Wenn ein Anderer meine Grenzen überschreitet, fühle ich mich wenigstens überrumpelt, wenn nicht sogar verletzt. Nur wer ganz bei sich selbst ist und seine Grenzen kennt, kann sich und sein Gegenüber an diesen Grenzen spüren. 

Paare neigen häufig zu symbiotischem Verhalten (c). Sie öffnen ihre Grenzen und autorisieren ihren Partner, ja erwarten manchmal sogar von ihm, ihren Vorgarten umzugraben. Das Resultat ist eine Gefühlsverwirrung. Welche Gefühle sind meine und welche die meines Partners? Wenn die Grenzen verschwommen sind, ist das nicht mehr nachvollziehbar. Das Ideal vieler Partnerschaften ist die Verschmelzung (d). Ich bin Du und Du bist ich. Das mag für den Liebesakt eine wundervolle Erfahrung sein, bewährt sich jedoch nicht im Alltag. Individualität und Attraktivität beruhen auf Grenzen, innerhalb derer ein Mensch sich selbst wahrnehmen kann. Traditionell Rotes Tantra nutzt den Akt der Verschmelzung ganz bewusst zur Anhebung und Umsetzung von Lebensenergie in die Erreichung des dreifachen Zieles.

Das Kamasutra – verpönte Quelle tantrischer Liebeslust

In unserer westlichen und weltlichen Gesellschaft hat das Kamasutra („Lehrtext tantrischer Liebeslust“) noch immer einen anrüchigen Charakter. In den meisten Fällen wird es reduziert auf die bildlichen Darstellungen außergewöhnlicher Stellungen beim Liebesakt. Der tatsächliche Inhalt geht jedoch weit darüber hinaus und beantwortet die oben gestellte Frage, was Tantra mehr zu bieten hat, als ein Besuch beim Paar- oder Sexualtherapeuten. Während sich letztere oft auf geistig-emotionale oder schulmedizinische Grundlagen berufen, bietet das Kamasutra praktische und direkt umsetzbare Vorschläge zur einer kunstvollen Beziehungsgestaltung im tantrischen Licht.

In seiner Neufassung des altindischen Textes in moderner Sprache behandelt Andro in zehn Hauptteilen die praktische Umsetzung tantrischer Liebeslust auf der körperlich erfahrbaren Ebene. Für mich stellt das Kamasutram 2000* einen tantrischen „Knigge“ der Beziehungsgestaltung dar. Insbesondere die Beschreibung der 64 Künste – darunter Gesang, Tanz, Schmuck, Wohlgerüche, Sprache, … – gibt einen Leitfaden, wie ein Mensch sich selbst verwirklichen und weiterentwickeln kann, um bestmöglich auf eine erfüllende Beziehung vorbereitet zu sein.

Das Kamasutram ist ein tantrischer „Knigge“ zur Beziehungsgestaltung.

Auch wenn sich das Kamasutra nahezu ausschließlich der Liebeslust (kama) widmet, so ist es doch nicht zu verleugnen, dass Liebeslust, Reichtum/Erfolg (artha) und Spiritualität (dharma) eng miteinander verbunden sind. Sie sind sozusagen das systemische Dreigespann, welches nicht nur den Tantriker, sondern jeden Menschen in seinem Wesen ganzheitlich ausmacht. Alle drei Bereiche sind miteinander in Beziehung und Wechselwirkung. Und was ich in dem einen Bereich vervollkommne, hat eine Auswirkung auf die anderen Bereiche. Alles ist mit allem verbunden. Das Individuum in sich selbst, alle Individuen miteinander und als Teil dieser wundervollen Natur – ein vollkommenes System!

Text: Klaus Gabriel Peill

Webseite: www.quinta-essentia.de

Alle Beiträge von Klaus Gabriel.

* Kamasturam 2000 von Andro erschienen im Antinous Verlag, Berlin 2002

Beziehungskunst, Tantra und Liebeslust
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Klaus Peill

Klaus Gabriel Peill, Jahrgang 1961, Tantra- und Reiki-Lehrer, Familiensteller und spiritueller Wegbegleiter. Als ausgebildeter Bankkaufmann, Elektroingenieur und Tonmeister war er 20 Jahre in der Vermarktung professioneller Audiotechnik tätig. Seit April 2010 selbständiger Gesundheitspraktiker (BfG) mit Schwerpunkt Persönlichkeitsbildung leitet er Seminare und gibt körperorientiertes Einzel- und Paarcoaching als Lebenshilfe und Begleitung in Lebenskrisen & Veränderungsprozessen.

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