Sexuelle Erfüllung im Außen oder im Innen?
Wenn es einfach nicht funktioniert, suchen die meisten Menschen den Grund dafür im Außen. Sie konsultieren einen medizinischen Spezialisten oder auch einen Sexualtherapeuten. Doch was, wenn jemand käme und behauptete, der Grund für den gefühlten Mangel sei im Innen zu suchen? Sexuelle Erfüllung im Außen oder im Innen? Kann Tantra einen Wegweiser auf diesem Weg nach Innen bieten?
Was bedeutet „erfüllende Sexualität“ für dich?
Um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie Tantra erfüllende Sexualität unterstützt, ist es hilfreich sich zunächst damit auseinander zu setzen, was Deine Sexualität denn wirklich erfüllt? Ist es die Zahl der vollzogenen geschlechtlichen Vereinigungen über einen bestimmten Zeitraum? Oder die Anzahl verschiedener Sexualpartner je Lebensabschnitt? Die Häufigkeit der Orgasmen oder etwa deren zeitliche Ausdehnung? Woran misst Du „erfüllende Sexualität“?
Und wenn jemand darüber klagt, dass „es“ einfach nicht funktioniert – was ist „es“? Habe ich einen Mann vor mir, geht es häufig um das Thema „erektile Dysfunktion“. „Er“ steht nicht, wenn Mann es will. Kommt die Klage aus weiblichem Munde, ist ein häufiger Grund Orgasmusunfähigkeit oder sexuelle Unlust. Beide Fälle sind typisch für hohe Erwartungen im Vergleich zu dem als gering eingeschätzten Erreichten.
Jeder Mensch hat ganz individuelle Erwartungen an die Sexualität. Doch diese Erwartungen sind häufig geprägt von gesellschaftlichen und moralischen Dogmen und ebenso von einer Medienvielfalt basierend auf dem Sex-Sells-Prinzip. Willige Frauen geben sich potenten Machos hin. Das Problem entsteht genau in dem Moment, wo ich mich mit anderen Vorstellungen vergleiche. Versinke ich dann vor Scham in den Boden, oder mache ich es wie der Fuchs, der die Trauben als sauer verschmäht, weil er sie nicht erreichen kann und erkläre die Sexualität als unwichtig, weil „es“ nicht funktioniert?
Es geht also darum, eine individuelle Antwort auf die Frage zu finden, was Du und jeder Einzelne für sich als „erfüllende Sexualität“ ansieht. Sexuelle Erfüllung im Außen oder im Innen? Die Antwort hängt auch von der Bedeutung ab, die der Sexualität gegeben wird. Wer der Sexualität in seinem Leben eine ebenso große Rolle einräumt, wie anderen Grundbedürfnissen (z. B. Atmen, Essen, Trinken, …), kann im Tantra hilfreiche Anregungen für erfüllende Sexualität finden.
Den eigenen Horizont erweitern
Tantra wird oft nachgesagt, es gehe dabei nur um Sex. Richtig ist: es geht auch um Sex. Sexualität ist die stärkste Lebenskraft. Sie sichert auf gewisse Weise das Überleben der Menschheit. Doch in den meisten Fällen folgt der sexuelle Akt einem unbewussten Trieb. „Es“ überkommt mich … Tantra lehrt Bewusstheit auf allen Ebenen – auch in der gelebten Sexualität. Wenn „es“ mich überkommt, bin ich nicht frei. Meine Handlung ist fremdgesteuert. Erst durch meine Bewusstheit komme ich in die Freiheit der Wahl.
Was unsere Wahlfreiheit einschränkt sind häufig gesellschaftliche und moralische Dogmen und Vorstellungen. Sie tabuisieren bestimmte (sexuelle) Handlungen und Spielarten („Sex ist nur erlaubt, wenn dadurch Kinder gezeugt werden sollen“). Wer sich außerhalb dieser Vorstellungen bewegt, ist ein schlechter Mensch. Wer gegen die Moral verstößt und (ungeschriebene) gesellschaftliche Normen verletzt, wird ausgestoßen und sollte sich schämen. Scham ist ein starkes Druckmittel!
Tantra ist eine ganzheitliche Weltanschauung, die alles ansieht und alles miteinbezieht, was die Natur zu bieten hat. Alles was ist, ist natürlich. Da gibt es auch keinen Grund sich zu schämen! Wenn ich schamlos alles annehmen kann, erweitert sich automatisch mein Horizont und damit auch die Fülle sexueller Erfahrungen. Tantra richtet den Scheinwerfer der Bewusstheit auf alles, was ist und ermöglicht mir so die Freiheit, aus dem weiten Feld der Möglichkeiten die Form der Sexualität zu wählen, die mich wirklich erfüllt.
Der Lust eine Chance geben
In unserer heutigen Gesellschaft sind wir oft geneigt, die Verantwortung für unsere Freude, unsere Lust, unsere Orgasmusfähigkeit anderen Menschen zu überlassen. „Nur mit ihm kann ich glücklich werden.“ – Nur mit ihr kommt meine Männlichkeit zur vollen Blüte.“ … Doch was bedeutet das? Dass wir die Verantwortung für unser eigenes Glück abgeben! Tantra lehrt auch, dass es keinen anderen Menschen gibt, der für Dein Glück verantwortlich ist, als Du selbst!
So gibt es im Tantra zahlreiche Rituale, die diese Selbstverantwortung unterstützen und fördern. Im Selbstliebe-Ritual beispielsweise entdeckst Du allein an Dir selbst – ohne Mitwirkung Dritter – was Dir Lust bereitet. In weiteren Schritten lernst Du, zu offen und ehrlich zu kommunizieren, was Dir Lust bereitet. Auf diese Weise können Du und andere Menschen, mit denen Du Deine Sexualität praktizierst, sich gegenseitig zum Diener und Steigbügelhalter der eigenen Lust werden.
Du lernst, Deine eigene Lust zu entfachen, auch ohne dass es dazu ein Idol im Aussen braucht. Und Du lernst, Deine Ritualpartner anzunehmen, wie sie sind. Denn jeder Mensch ist nicht mehr und nicht weniger, als der Träger eines göttlichen Funkens, der im tantrischen Ritual als Shiva oder Shakti angesprochen wird. Diese rituelle Anrede (und weitere rituelle Handlungen) transformieren die Ritualpartner auf eine transpersonale Ebene, auf der die Beschränkungen des menschlichen Seins keine Wirkung mehr haben.
Slow Sex
„Um richtig körperlich zu lieben, bedarf es des aufrichtigen und echten Bestrebens, die Wahrheit in allen anderen Bereichen deines Lebens zu leben. […] Beim physischen Lieben geht es nicht nur darum, körperlich zu leben, es geht darum, deine Liebe und dein Leben von Sorgen zu befreien.“ (Barry Long in der Einleitung zu seinem Buch „Sexuelle Liebe auf göttliche Weise“)
In neo-tantrischen Strömungen ist der „Slow Sex“ als eine Methode der entspannten körperlichen Vereinigung weit verbreitet. Für viele Menschen, die unter Druck und Stress stehen, sexuelle Hochleistungen vollbringen zu müssen, ist die frohe Botschaft: es gibt nichts zu tun! Wenn es dir gelingt, der dir innenwohnenden Weisheit deines Organismus freien Lauf zu lassen, dann funktioniert „es“ von selbst. Alles was du dazu brauchst ist Zeit.
So ermöglichen die „stille Vereinigung“ oder „sanfte Vereinigung“ eine stressfreie Sexualität, aus der sich früher oder später die individuelle Lust entwickeln kann. Nach Barry Long haben Lingam und Yoni ihre eigene „Intelligenz“ die – wenn sie nicht durch Denken gestört wird – der Lust freien Lauf lässt. Auch hier wird offen sichtlich, dass es immer nur übernommene gesellschaftlich-moralische Vorstellungen sind, die uns an der freien Entfaltung unserer Liebeslust hindern.
Ja zum Leben – Ja zur Sexualität
Sexuelle Erfüllung im Außen oder im Innen? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass erfüllende Sexualität das Leben lebenswerter erscheinen lässt. Umgekehrt hat die Sexualität in einem erfüllten Leben ihren angestammten Platz. Leben und Sexualität gehören zusammen. Der Kreislauf von Geburt und Tod wird durch die Sexualität in Gang gehalten. Mein Ja zum Leben mit all seinen Facetten ist gleichzeitig ein Ja zur Sexualität. Wer Sexualität ablehnt, negiert einen Teil des Lebens und auch einen Teil von sich selbst.
Ein „Koan“ mit Augenzwinkern: „Das Leben ist eine Krankheit, die durch Sex übertragen wird und zu 100% tödlich endet.“ (je nach Quelle dem Psychiater Ronald D. Laing oder auch Woody Allen zugeschrieben)
Text: Klaus Gabriel Peill
Webseite: www.quinta-essentia.de