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Raus aus der Schmuddelecke

Erotik und Sexualität mit Würde zu kultivieren, dazu kann Tantra Wesentliches beitragen. Das ist nicht immer leicht, denn kirchliche und gesellschaftliche Sexualmoral haben Sex allzu oft dämonisiert und in den Schatten gedrängt. Leider ist es damit nicht vorbei: So untersagen z.B. Facebook und Google die Werbung für sexpositive Bücher und Events auf ihren Plattformen, in aller Regel auch die Werbung für Tantra. Wer Sex aus der Schmuddelecke befreien will, läuft Gefahr, selbst dort hineingestellt zu werden.

Wir Tantriker könnten versucht sein, uns als Opfer solcher Prozesse zu fühlen, den Schatten außerhalb von uns zu verorten und uns selbst als Befreier zu sehen. Für manche unserer Persönlichkeitsanteile fühlt sich das womöglich gut an, vor allem für das sogenannte Ego.

Damit wären wir bei unseren eigenen Schattenseiten. Tantra bleibt an der Oberfläche, wenn wir uns denen nicht intensiv zuwenden und Verantwortung übernehmen. Mir kommen einige in den Sinn, die in der Tantraszene verbreitet sind:

  1. Eine gewisse Fixierung auf den Körper
  2. Eine gewisse emotionale Arroganz: Gefühle sind besser als Gedanken
  3. Die Abwertung von Bewertung und Kritik
  4. Grenzverletzungen und Übergriffe
  5. Gott spielen
  6. Geschlechterklischees in neuem Gewand

Die tantrischen Imperative

Als Anregung zur weiteren Erforschung der obigen Liste hier die zugrundeliegenden tantrischen Imperative, die dazu geeignet sind, Schatten zu produzieren (vor allem wenn sie unreflektiert umgesetzt werden):

1. Raus aus dem Kopf, rein in den Körper

Früher galt der Körper eher als Last denn als Quelle von Lebensfreude. Inzwischen pflegt unsere Gesellschaft ein ambivalentes Verhältnis zur Körperlichkeit. Einerseits stehen Well- und Fitness hoch im Kurs, andererseits findet das Körpergefühl – eine wirkliche Präsenz im Körper – oft viel zu wenig Beachtung. Das hat insbesondere für unsere Sexualität Bedeutung. Erfüllende Sexualität setzt ein gutes Körpergefühl voraus.
Doch müssen wir dafür den Kopf abschalten? Es mag verlockend klingen, quälende Gedankenschlaufen hinter uns zu lassen und uns ganz dem sinnlichen Genuss im Hier und Jetzt zu widmen. Doch auch unser Kopf und sogar der von manchen Tantrikern vielgescholtene Verstand haben ihren Sinn und Wert. Auch sie brauchen bewusste Aufmerksamkeit und intelligente Entwicklung, damit sie uns nicht in die Irre führen, sondern uns ein Verständnis für komplexere Zusammenhänge ermöglichen.

2. Vertraue auf dein Gefühl

Als ich zur Schule ging, bekamen Gefühle so gut wir gar keine Aufmerksamkeit, das war für viele traumatisch. Inzwischen gibt es auch hier eine Gegenbewegung, Gefühle werden deutlicher wahr- und ernstgenommen. Wer nicht genug fühlt, gerät manchmal gar unter Rechtfertigungsdruck.
Doch wenn das sprichwörtliche „Bauchgefühl“ zur letzten oder gar einzigen Instanz wird, der wir vertrauen, haben wir nicht nur privat, sondern auch gesellschaftlich ein massives Problem. Wir verlieren die Fähigkeit kritischer Reflexion und können kaum durchschauen, wie uns emotionale Prägungen aus früheren Erfahrungen heute hinters Licht führen. Was sich gut anfühlt, ist längst nicht immer die beste Wahl. Die Klimakrise und andere Krisen führen uns das deutlich vor Augen.

3. Annehmen, was ist

Unsere Kultur erschöpft sich oft in aufreibenden Kämpfen gegen das, was ist. Ähnlich geht es vielen Paaren, die – wenn die Verliebtheit abklingt – immer wieder das Haar in der Suppe finden. Da klingt es verlockend, mit dem ständigen Bewerten aufzuhören und uns und die Welt endlich so anzunehmen, wie wir sind. Was für eine Wohltat!
Doch anzunehmen, was ist, heißt nicht, alles einfach hinzunehmen. Etwas anzunehmen bedeutet zu verstehen und zu akzeptieren, was nicht ungeschehen gemacht werden kann und dass es jetzt so ist, wie es ist. Das Annehmen ist nur der erste Schritt zu einem friedlicheren Leben. Der Wunsch nach Veränderung gehört nämlich auch zu dem, was ist. Und damit nicht genug: Manchmal – nicht immer! – verändert sich etwas genau dadurch, dass wir es annehmen. Erst wenn wir uns dieser Paradoxien bewusstwerden, können wir sinnvoll den nächsten Schritt angehen. Oder anders gesagt: Erst wenn ich weiß und akzeptiere, wo ich gehe oder stehe, kann ich bewusst eine neue Richtung einschlagen.

4. Überwinde die Grenzen deiner Persönlichkeit!

Psychologische Grenzen sind meistens Produkte unseres menschlichen Verstandes. Oft schränken sie unser Potenzial ein. Wenn wir sie als gegeben hinnehmen und nicht hinterfragen, halten sie uns gefangen und wir entwickeln uns kaum weiter. Sie sind also in gewisser Hinsicht eine Illusion: Alles ist mit allem verbunden, das entspricht nicht nur der tantrischen Perspektive, sondern ist auch naturwissenschaftlich plausibel.
Doch Grenzen zu verleugnen oder zu bekämpfen scheint mir kein hilfreicher Weg, sondern führt zu Verletzungen, auch im Tantra. Erst wenn wir Grenzen in ihrer Entstehung und Funktion verstehen, können wir sinnvoll mit ihnen umgehen und entscheiden, ob wir sie überschreiten wollen oder nicht und – insoweit andere Menschen mitbetroffen sind – einen Konsens darüber herstellen.

5. Ich ehre das Göttliche in dir und in mir!

Der asiatische Gruß Namastè, der manchmal so übersetzt wird, kann einen schönen Rahmen für ein tantrisches Ritual bieten. Die Geste unterstützt die Intention, für einen gewissen Zeitraum aus alltäglichen Projektionen und Identifikationen auszusteigen und kann Räume öffnen für Begegnungen jenseits unserer Persönlichkeit.
Doch ist es so leicht, uns mit unserer göttlichen Essenz zu verbinden bzw. diese in jedem anderen Menschen zu sehen? Traditionell braucht das zumindest viele Jahre der Vorbereitung. Ich habe schon beobachtet, wie Tantra-LehrerInnen mit dieser Vorstellung Gruppenteilnehmer dazu verführen, ihre Grenzen zu missachten und sich z.B. intim auf andere Menschen einzulassen, auf die sie sich eigentlich gar nicht einlassen wollen. Wer sich widersetzt, riskiert, als spirituell zurückgeblieben dazustehen. Gott zu spielen (als Shiva oder Shakti) kann sich göttlich anfühlen, kann aber auch eine prima Möglichkeit sein, Schattenseiten auszublenden oder sie gar zu erschaffen.

6. Sei ganz Frau, sei ganz Mann!

Wenn du ganz Mann bist, kann sie ganz Frau sein – und umgekehrt. Formulierungen wie diese genießen eine gewisse Popularität in der Tantraszene. Ihre Nebenwirkungen werden oft unterschätzt. Soweit damit gemeint ist, uns als sexuelle und erotische Wesen und in unserer jeweiligen geschlechtlichen Eigenart und auch Differenz anzunehmen, stimme ich zu.
Leider verbirgt sich in solchen Sätzen eine ziemlich altbackene Ideologie von Mann und Frau, die nur in spirituellem Gewand daherkommt. Polarität ist eine wesentliche Zutat für erotischen Kontakt, doch wir müssen sie nicht auf zwei Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen normieren, um diese dann jeweils einem Geschlecht zuzuweisen.

Unsere Schattenseiten integrieren

Wie gehen wir mit diesen Schattenseiten um? Der wichtigste und oft schwerste Schritt besteht darin, sie überhaupt in uns selbst wahrzunehmen und als solche anzuerkennen (bei anderen geht das manchmal leichter). Wenn wir bemerken, dass wir in eine Verteidigungshaltung geraten, sind wir auf einer guten Spur und zugleich in Gefahr, sie gleich wieder zu verlassen. Vor allem der Verstand ist nämlich in der Lage, alles so hinzudrehen, wie es einem passt. Sich chronisch von ihm abzuwenden, macht ihm seine Abwehrmanöver sogar noch leichter.

Es geht nicht darum, unsere Schatten-Seiten zu verdammen, sondern ganz im Gegenteil: sie zu integrieren. In jedem der oben benannten Schatten steckt etwas Wertvolles. Zum Problem werden sie erst, wenn wir sie übergewichten oder benutzen, um etwas anderes – meist einen Gegenpol – zu vermeiden. Wir könnten uns also fragen: Was ist unser Problem mit dem Kopf, mit dem Denken, mit Bewerten, mit Grenzen, mit unserer Menschlichkeit und nicht rollenkonformer Geschlechtlichkeit? Wie können wir Körper, Gefühle und Verstand miteinander versöhnen? Jede Ebene hat ihre Stärken und Schwächen, wir brauchen sie alle; aber wie und wofür? Das herauszufinden finde ich eine lohnende Aufgabe, die wir sinnlich-sexy, emotional und intelligent angehen können.

Ich freue mich über Rückmeldungen und Kommentare, die helfen, unseren Licht- wie Schattenseiten näher auf die Spur zu kommen.

Text: Saleem Matthias Riek

Website: www.schule-des-seins.de

Ein Blick in den tantrischen Schatten
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Saleem Matthias Riek

Saleem Matthias Riek ist 1959 geboren, Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie, Tantralehrer, Diplom-Sozialpädagoge, Buchautor und lebt bei Freiburg im Breisgau. Seit 1986 erfolgreiche therapeutische Arbeit mit Einzelnen und Gruppen, seit 1992 mit den Schwerpunkten Liebe, Erotik, Paarbeziehung und Tantra, seit dem Jahr 2000 auch in der Ausbildung von Gruppenleitern tätig. Saleem ist Autor mehrerer Bücher rund um Lust und Liebe, Tantra und Spiritualität. Weitere Bücher, darunter ein Roman, sind in Vorbereitung.

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