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Meine erste tantrische Übung machte ich 1986. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich schon bei verschiedenen spirituellen Traditionen umgeschaut und war dann beim westlichen Sufismus „hängen geblieben“. Ich lebte damals in Amsterdam und hatte keinerlei Motivation irgendeine spirituelle Praxis selbst als Lehrer beruflich auszuüben. Im Gegenteil: Der Sufismus sprach mich unter anderem deshalb an, weil er mit einer privaten Struktur von Guides arbeitete, die ihre Schüler*innen unentgeltlich betreuten, Meditationsklassen leiteten und Universelle Gottesdienste organisierten. Nur einige wenige, die viel Zeit mit der Ausbildung der Guides verbrachten, erhielten dafür eine minimale Entschädigung. Diese Spiritualität im privaten Rahmen – also im Alltag – sprach mich sehr an.

Auf Tantra stiess ich dadurch, dass der Sufismus zu einer wichtigen Alltagsangelegenheit, die ich als zutiefst spirituell empfand, kein Angebot machte: zur Sexualität. Ich las damals immer wieder über die tantrischen Traditionen und hatte auch bald eine spezifische Ausrichtung des Tantras gefunden, nämlich die hinduistische Shakta, bei der die weiblichen Gottheiten zentral stehen. Im Gegensatz zu beispielsweise dem tibetisch-buddhistischen Tantra fand diese weniger in der Abgeschiedenheit eines Klosters oder Ashrams statt, sondern im Alltag. Dies war mein Hauptkriterium. Es sollte alltagstauglich sein.

In den 80ern kamen viele meiner Freunde und Bekannten aus Poona bzw. Oregon zurück und kleideten sich in den Farben der aufgehenden Sonne – von gelb-orange bis tiefrot. Ich war zunächst an diesen Sanyasins und ihrem Meister Rajneesh (Osho) sehr interessiert, vor allem auch, weil sie Tantra im Gepäck hatten. Doch bald wurde klar, dass dieses Tantra starke sexualtherapeutische Züge hatte, die nicht als Alltagspraxis taugten.

In den nächsten 20 Jahren suchte ich also außerhalb der neotantrischen Szene und fand einiges, was ich aus heutiger Sicht wirklich erstaunlich finde. Zum Beispiel lernte ich über verschiedene Annoncen, die ich in einschlägige Printmedien setzte, Jochen kennen, der Tantra von einer Angestellten des indischen Konsulats in Bonn und bei einem Neurologen – auch ein Inder – , der an der Uniklinik in Heidelberg tätig war, gelernt hatte. Jochen war damals schon weit über fünfzig und ich und meine Freundin um die dreißig. Es war eine sehr inspirierende Begegnung, die viele Jahre überdauerte. Jochen gab mir eine Art Ariadnefaden in die Hand, mit dem ich über die Jahre hinweg immer wieder Tantriker*innen auf der ganzen Welt kennenlernte. Auch er war ein Alltags-Tantriker.

Ich lernte im Laufe der Jahre traditionelle Tantriker*innen verschiedenster Couleur kennen … Künstler (wie ich selbst), Politiker, Handwerker, Beamte. Ich hörte von Tantriker*innen bei der indischen Armee, bei der Polizei und an Universitäten. All diese Leute gaben ihr Wissen weiter. Privat und ohne finanzielle Interessen. Es ging um die Sache. Natürlich hat dies alles seine Grenzen. Als ich z.B. Madhu Khanna, die jahrelange Assistentin von Ajit Mookerji, in Delhi kennenlernte, war klar, dass sie als Indologin natürlich auch Geld mit ihrer tantrischen Forschung verdienen musste. Ich kaufte ein dickes, völlig überteuertes Buch von ihr. Doch das war es mir auch wert. 

Ich verbrachte 2001 mehrere Monate in einem Ashram in Rishikesh, wo Tantra-Yoga unterrichtet wurde. Ich habe dort sehr viel gelernt und erhielt von dem dortigen Swami Einweihungsbefugnis in verschiedene tantrische Techniken. Doch das meiste, was dort in vielen Stunden jeden Tag gelehrt und praktiziert wurde, konnte ich in meinem täglichen Leben nicht aufrechterhalten. Eines wurde mir in dem Ashram jedoch klar: Man benötigt keine bestimmte Umgebung, kein spezielles Setting, keinen exklusiven Ort, keine wiederkehrende Zeit, um Tantra zu praktizieren. Tantra kann überall stattfinden, bei jeder Beschäftigung … bei der Arbeit, in der Beziehung, beim Betreuen der Kinder, beim Kochen, ja sogar im Schlaf kann (und sollte) man Tantra praktizieren.

Ich bin Vater von fünf Kindern, habe eine wunderbare Karriere als Tänzer und Choreograph hinter mir und bin mittlerweile viel zuhause, da meine Partnerin für ihre Arbeit oft unterwegs ist und ich mich daher oft um meine beiden jüngsten kümmere. Die tantrische Praxis, die ja bei weitem nicht nur erotisch ausgerichtet ist, hatte bisher in jedem Lebensentwurf Platz. Mit meinen Tänzer*innen meditierte ich und praktizierte mit ihnen Yoga. Meine Kinder baten uns während der Lockdowns um eine tägliche Familienmeditation. Die Mantras suchten sie selbst heraus. Als Kleinkinder sind sie auf mir herumgekrabbelt, während ich in Yogahaltungen verharrte. Und natürlich spielt die tantrische Sexualität eine große Rolle in meinem und den Leben meiner Partnerinnen, mehr oder weniger ritualisiert, als Meditationen in Vereinigung, als Heil-Sex bei Krankheiten, als Abstandsrituale per Zoom, wenn man sich nicht persönlich treffen kann, als tantrisches Brahmacharya (Ejakulationskontrolle), wodurch ich in meiner Beziehung die Verhütung in der Hand habe.

Tantra entstand nach dem heutigen Forschungsstand in den matriarchalen Kulturen Asiens, vor allem Indiens. Im indischen Matriarchat gab es keine Priesterkaste. Diese wurde erst von den arischen Invasoren, die aus Osteuropa kamen, vor etwa 3500 Jahren dort installiert. Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass im Patriarchat die Männer und im Matriarchat die Frauen das Sagen hätten. Der Unterschied zwischen beiden ist der, dass das Patriarchat eine meist großflächige Herrschaftsstruktur mit einem steilen hierarchischen Gefälle ist, während Matriarchate regional, anarchisch-demokratisch in flachen Hierarchien organisiert sind. Tantra entstand in einer Umgebung, in der es keine Spezialisierung im religiös-spirituellen Bereich gab. Alle, die lange genug Tantra praktizierten, waren irgendwann Lehrer, und zwar neben Familie und Beruf.

Dies hielt sich noch sehr lange. Als 2500 Jahre später im indischen Mittelalter die Bön-Lamas aus Tibet kamen, um den Buddhismus zu erlernen, wurden sie in tantrischen Familien aufgenommen und erlernten meist das Handwerk, welches dort ausgeübt wurde. Nebenbei wurde ihnen der tantrische Buddhismus beigebracht. Oft waren die Gurus Frauen. Da der Buddhismus – wie auch das Tantra – das Kastensystem ablehnte, war die Verschmelzung beider ganz natürlich. Spiritualität, Lehre, Erleuchtung und Befreiung waren Alltagsangelegenheiten.

Mittlerweile habe ich mich voll und ganz dem Unterrichten traditioneller, tantrischer Lehren zugewandt. Dabei ist es für mich außerordentlich wichtig, meinen Schüler*innen die Möglichkeit zu bieten, alle Aspekte ihres Lebens zu einer tantrischen Übung machen. Wenn ich also auf die Frage, ob man sein Klo tantrisch putzen kann, eine Antwort geben müsste, würde ich sagen: „Ich kenne keine andere Art und Weise.“

Text: Johannes Ganesh Bönig

Webseite: www.tantrayoga.site

Der Alltag als Ashram
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