Licht und Schatten entstehen durch den Tanz der Liebe. (Rumi)
Rumis Zitat klingt paradox für den Verstand, doch mit dem Herzen betrachtet? Wie kann ich mich im eigenen Schatten ausruhen und Frieden finden?
„Um Gottes Willen – nein – so bin ich nicht! Das ist mir völlig fremd!“ So oder ähnlich versucht mein Ego immer wieder, sich ins rechte Licht zu rücken. Schattenseiten werden vernachlässigt – möglichst sogar ignoriert. Dabei weiß ich doch genau: wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Der Mond leuchtet hell – auf der uns zugewandten Seite. Die andere Seite liegt im Schatten, ist dunkel. Sie gehört dazu. Kann ich also meine eigenen Schattenseiten einfach so ignorieren?
Natürlich nicht, sagt eine Stimme in mir. Vielleicht solltest Du mal den Balken im eigenen Auge realisieren, anstatt über die Splitter in den Augen der anderen zu lästern? Aber bleibe ich ein „guter Mensch“, wenn ich und möglicherweise sogar auch andere Menschen meine Schattenseiten sehen? Verliere ich nicht mein Gesicht, wenn alle wissen, was ich in den tiefsten Winkeln meiner Seele verzweifelt zu verbergen suche? Wenn alles das, was bisher ein Tabu war, plötzlich ans Licht kommt?
Das bin ich auch
Im Tantra heißt es: schließe nichts aus, keine Gedanken, keine Ansicht, keine Lebensart! Oder umgekehrt formuliert: alles darf sein, alles hat seine Berechtigung, alles gehört dazu. Es gab eine Zeit, da habe ich mich für meine „negativen“ Gedanken und Bilder geschämt. Darüber zu sprechen, wäre unmöglich gewesen. Hier ein Beispiel: ich wurde von einem Menschen, dem ich vertraute, um eine große Summe Geldes betrogen. In meiner Wut und Verzweiflung entstanden in mir mordlustige Phantasien und Bilder. Ich war entsetzt über mich selbst – ein Mörder lebt in mir! Darf er in mir leben? Ja. Gebe ich ihm die Macht? Nein. Und das bin ich auch.
Wenn ich den unerwünschten, ungeliebten Anteil in mir ablehne, lehne ich einen Teil von mir selbst ab. Denn der Anteil lebt ihn mir, ob ich will oder nicht. Lehne ich ihn ab, verharre ich im Kriegs- und Kampfmodus. Dabei fokussiere ich auf das, was ich nicht will und gebe dem Unerwünschten Energie. Denn die Energie folgt der Aufmerksamkeit. Ich brauche der ungeliebten Wesensart meiner Selbst nicht die Führung zu überlassen. Es reicht, wenn ich sie ansehe und ihre Existenz bejahe. Dann darf der Kampf aufhören.
Über den eigenen Schatten springen
Warum versuche ich immer wieder, meine vermeintlichen Schattenseiten zu verbergen? Ich wünsche mir Anerkennung für die Eigenschaften in mir, auf die ich stolz bin. Menschen die gut finden, was ich an mir selbst mag, bestätigen mein Selbstwertgefühl und füttern damit mein Ego. Was wären das für Menschen, die meine Schattenseiten bevorzugen? Doch bestimmt nur solche, die ich genauso wenig mag, wie meine Schattenseiten, oder?
Tantra lehrt den Verzicht auf Bewertungen gegenüber Menschen, Dingen und Sachverhalten. Und Tantra lehrt die Verehrung jeglicher Erscheinungsformen als transpersonalen Aspekt und Emanation des Göttlichen. Alles, was mir in mir und in anderen Menschen begegnet, geht also aus „dem Göttlichen“ hervor? Wie stünde es mir also zu, diese Aspekte des Göttlichen zu bewerten? Und selbst als Atheist kann ich mich vor dem Wunder der Natur verneigen. Alles was die Natur hervorbringt, ist per Definition natürlich (siehe auch mein Beitrag „Sind Sie normal, oder gesund?„). Darf der Mensch, als Teil der Natur, diese – und damit sich selbst – bewerten oder gar abwerten?
Alles Bisherige in den Schatten stellen
Vielleicht ist ja ein Paradigmenwechsel an der Zeit? Welche Auswirkungen hätte es, wenn ich alles, was ich bisher verheimlichte, ans Licht bringen würde? Und alles, was ich bisher vorgab zu sein in den Schatten stellte? Meine Umwelt wäre aufs Äußerste irritiert, ja sogar ent-täuscht. Meine Mitmenschen und auch ich selbst müssten sich von einer Täuschung verabschieden. Eine Täuschung über das tatsächliche Ausmaß der Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit, die nicht nur aus dem besteht, was ich mir idealerweise wünsche, sondern auch aus dem, was ich ablehne.
Tantra lädt mich ein, meine persönliche Geschichte loszulassen. Die Anhaftung fahren zu lassen an die Vorstellungen des Egos, wie ich zu sein hätte, um den maximalen Applaus meiner Umwelt zu erhaschen. Und Tantra lädt mich ebenso ein, Mitgefühl zu entwickeln – allen voran Mitgefühl zu mir selbst und meinen vermeintlichen Schattenseiten. Seiten und Anteile von mir, die mich erst vollständig machen. Seiten und Anteile, die ganz natürlich sind und ohne die ich nur ein Schatten meiner Selbst wäre.
Text: Klaus Gabriel Peill
Webseite: www.quinta-essentia.de