Macht Tantra glücklich?
Wenn ich mich frage, welche Faktoren in meinem Leben besonders zu meinem Glück beigetragen haben, stehen meine Erfahrungen im Kontext von Tantra tatsächlich ganz weit oben.
„Tantra macht glücklich“ mag sich als Werbeslogan für Seminaranbieter eignen, als Erwartungshaltung würde ich allerdings davon abraten. In einem meiner letzten Kurse sagte eine Teilnehmerin in der Abschlussrunde: „Ich bin gekommen in der festen Absicht, mit meinem Partner ein paar schöne Tage zu verbringen, keinen Bock auf Stress, Problembearbeitung oder besondere Herausforderungen. Die haben wir in unserem Alltag genug. Nun, es kam natürlich anders, es gab Stress, Problembearbeitung und besondere Herausforderungen. Und was soll ich sagen: Ich will nichts davon missen, denn ohne diese Tiefen wären auch die wunderbaren Höhen nicht möglich gewesen. Wir sind unserer Liebe füreinander so nahegekommen, wie schon lange nicht mehr.“
Ein Königsweg ins Unglück
Weise Worte, wie ich finde. Wir Menschen sind immer wieder versucht, Glück zu suchen, indem wir unangenehme Gefühle und Herausforderungen meiden. Es funktioniert nur leider nicht, ganz im Gegenteil. Der Tunnelblick auf ersehntes Glück ist einer der Königswege ins Unglück. Tantrische Glücksversprechen sind insofern gefährlich, sie vermasseln unser Erwartungsmanagement. Es ist wie beim Sex: Wenn es unbedingt supergeil werden muss … naja, es wird dann schnell mal stressig. Wer Tantra als reine Wellnessveranstaltung versteht, wird eher oberflächliche Erfahrungen machen oder enttäuscht werden. Letzteres ist vielleicht das Beste, was dann passieren kann, vor allem wenn wir bereit sind, die Täuschung als solche zu erkennen und loszulassen.
Das ist leichter gesagt als getan. Enttäuschungen tun meist erstmal weh, doch sie haben das Potenzial, uns mit einer tieferen Wirklichkeit zu verbinden, als uns zuvor zugänglich war. Damit bin ich beim Wertvollsten, was ich im Tantra entdeckt habe: den unmittelbaren Sinn für das, was ist. Das Sein. Es ist banal und zugleich so schwer zu entdecken, weil das Sein immer schon da ist. Keine Existenzgründung kann es erschaffen, die braucht es aber auch nicht. Um in Fühlung zu kommen mit dem, was ist, brauchen wir eine Haltungsveränderung, die unseren am Tun orientierten kulturellen Gewohnheiten diametral entgegensteht. Indem wir uns empathisch – also fühlend und mitfühlend – dem zuwenden, was in uns und um uns herum los ist, können wir dessen Wert entdecken. Doch das ist nicht alles, denn darauf aufbauend können wir Einfluss nehmen und etwas von dem verwirklichen, was wir uns ersehnen, was aber noch nicht da ist. Wenn wir hingegen die Realität – also das, was ist – verleugnen oder dagegen ankämpfen, sitzen wir am kürzeren Hebel.
Die Herausforderung echter Verbundenheit
Fühlen und Mitfühlen, das klingt zwar attraktiv, ist es aber oft nicht. Manchmal ist es unerträglich. Daniel Odier beschreibt in seinem Roman „Tantra. Eintauchen in die absolute Liebe“ Herausforderungen durch eine Tantra-Meisterin, die ihm alles abverlangt, darunter eine Konfrontation mit schwerkranken „Aussätzigen“. Das aktuelle Pendent wäre vielleicht die Arbeit auf einer Covid-Intensivstation, die vom Sender rbb einfühlsam und preisgekrönt dokumentiert wurde. Wollen wir tatsächlich derartiges Leid mitfühlen?
Eine der tantrischen Grundannahmen lässt sich wie folgt zusammenfassen: Alles ist mit allem verbunden. Mancher bekommt bei diesem Satz glänzende Augen und erinnert sich an das beglückende Gefühl im Meditationsraum, sich bei geschlossenen Augen und in Stille mit der gesamten Existenz verbunden zu fühlen. Dieser Bewusstseinszustand kann innere Türen öffnen, birgt aber auch die Gefahr einer Selbsttäuschung oder Flucht nach innen, so als bräuchten wir uns um weltliche Sorgen und Nöte nicht weiter zu kümmern.
Die Pandemie bringt diese Täuschung deutlich zum Vorschein. Die spirituelle und auch die tantrische Szene war auch zuvor schon heterogen und die äußere Harmonie oft mehr Schein als Sein. Jetzt kommt es zu offenen Konflikten z.B. zum Thema Impfung und ich bin nicht der Meinung, wir sollten diese mit spiritueller Verbundenheit übertünchen – allerdings auch nicht eskalieren lassen. Lassen wir uns von der vielfältigen Tragik dieser Katastrophe berühren oder fliehen wir lieber in Verleugnung oder Hirngespinste, die Impfgegner als die eigentlichen Opfer aussehen lassen? Das verständliche Entsetzen darüber, uns nicht jederzeit treffen und in tantrischen Räumen Lust und Liebe feiern zu dürfen, verstellt anscheinend hier und da den Blick dafür, was tatsächlich los ist in der Welt. Das alles – auch in seiner unübersehbaren Komplexität – wahrnehmen und wahrhaben zu wollen, macht uns nicht unbedingt glücklich, aber es lässt uns reifen. Vielleicht geht es uns irgendwann so wie der oben zitierten Seminarteilnehmerin und wir erkennen: Erst wenn wir bereit sind, unangenehme Tiefen zu erfahren, können wir auch wirkliche Höhen erleben und Liebe als solche erkennen, ohne eine rosarote Brille aufzusetzen. Wir lassen die zwanghafte Suche nach Glück los, zuweilen findet es uns dann einfach in der Unmittelbarkeit und Fülle unserer Erfahrung.
Uns vom Glück finden lassen
Der Philosoph Wilhelm Schmid unterscheidet in seinem Büchlein zum Thema
- zufälliges Glück (z.B. ein Lotteriegewinn),
- Wohlfühlglück (z.B. eine Wellnessmassage) und
- das Glück der Fülle.
Letzteres würde ich als das Glück des Seins bezeichnen. Paradoxerweise kann es auch Unglücklichsein, Schmerz oder Leere umfassen. Es ist nicht von Äußerlichkeiten abhängig, schätzt diese aber auch nicht gering oder blendet sie aus. Es geht nicht um Askese. Glücklicherweise ehrt Tantra auch unsere Sinnesfreuden und unterscheidet sich damit von vielen anderen spirituellen Lehren. Wir können und dürfen uns von unserer Lust und Liebe leiten lassen und das Leben genießen … solange wir uns nicht auf den Genuss fixieren. Tieferes Glück finden wir nicht, indem wir einem Zufalls- oder Wohlfühlglück hinterherjagen, sondern es findet uns, wenn wir uns immer wieder demgegenüber öffnen, was wirklich ist, und wir darin – in aller Widersprüchlichkeit – unsere Heimat finden.
Wie erlebst Du Glück, was hilft dir dabei, was steht im Weg? Ich freue mich über deinen Kommentar!
Text: Saleem Matthias Riek
Website: www.schule-des-seins.de
Tolle Beschreibung, wie das so sein könnte und kann, mit der individuellen und kollektiven Glücksfindung, lieber Saleem. Danke sehr dafür. Besonders z.B. für die drei unterschiedlichen Glücksarten.
Meine Glücksmomente, nun. Wie kann ich es verständlich machen. Für mich hat diese Pandemie – bei allem Grauen, vor allem für viel stärker Betroffene – ein echtes Geschenk mitgebracht. Die Einsamkeit hier in einem kleinen brandenburgischen Dorf. Mit ganz vielen – offensichtlich nicht sehr unglücklichen – Pärchen um mich herum. Ich selbst bin Single, der sich mit der Partnerinnen-Suche nicht sehr leicht tut. Ja, und um mit dieser Einsamkeit auf eine gute Weise umgehen zu können, habe ich tatsächlich den eigenen Körper entdecken dürfen. Als Quelle bzw. Verbindungsstück zu sehr vielen sich sehr lebendig anfühlenden Momenten. Um nicht das Wort Seele zu gebrauchen. Und das Beste, ich kann darauf quasi überall zugreifen, wobei insbesondere das Zusammensein mit der Natur, die hier zahlreich vorhanden ist, es deutlich leichter macht. Inzwischen kann ich diese Quelle auch an belebteren Orten anzapfen. Manchmal mache ich daraus auch so eine Art Performance. Tanz. Ja, nein, Vorsicht… Wenn ich zu viel ´machen will´, dann fall ich aus diesem schönen Fülle-Watte-Bäuschchen auch schnell mal raus. Das ist wohl so ähnlich, wie du, Saleem, das beschreibst im Artikel, wenn man das Glück jetzt bitte haben will, auf Knopfdruck, ein Kilo Glück bitte… Also, irgendwie, ja… immer wieder den Atem, beobachten, es geschehen lassen und mir dabei zugucken quasi.
Ja, und jetzt mag sich der ein oder andere fragen, was genau ich da mache. Hm… Überhaupt nichts Besonderes. Ich versuche mich auf meinen Atem zu fokussieren. Zu gucken, wo ich denn da stehe. Und dann geht es auch schon los, irgendwas, passiert. Mit irgendeinem Körperteil, das… sich bewegen will. Ode, einfach, erst mal, stehen und… atmen. Oder gucken. Und zwar, ja, gucken, und nicht ´guck-denken´, also gucken, um dabei aber eigentlich aber schon an etwas anderes zu denken. Interessanterweise nimmt die Gedankentätigkeit aber bei dieser ´Tätigkeit´ sowieso meist schnell ab, bzw. reduziert sich auf eher so flackernde Assoziationen, die wiederum Impulse für Bewegungen oder Geräusch sein können. Von außen betrachtet oder gehört sieht das, was ich da treibe auf jeden Fall seeeehr besonders aus. ,-)
Ja, und aus dieser Stimmung dann meine körperlichen Impulse zu spüren und denen nachzugehen, in ganz kleinen Bewegungen, oder auch ganz anderen, mit einzelnen Körperpartien oder Rumpf oder bloß die Haut zwischen den Fingern, knibbeln, auch mal lautem Atem, Hüpfen, oder gar, Lauten. Es ist alles möglich, alles erlaubt. Es ist so eine Art Improvisation mit mir selbst. Mit viel Fülle, die ich da für mich entdecke. Auch mit trauriger Anfangshaltung entsteht da immer wieder schneller als ich es vorher glauben würde, etwas Dynamisches, Spielerisches, ja, ich würde sagen immer wieder auch Traumhaftes.
Vielleicht ist ja ein bisschen klar geworden, was ich meine. Das fänd ich jut. So wie Anmerkungen dazu, wer möchte, auch. Guten Abend in die Runde.
Danke für diese originelle Beschreibung deines Glückempfindens, lieber Thom!
Lieben Dank für diese Betrachtung. Es geht nicht um Askese, es geht aber in dem Sinne auch nicht um Ekstase, das lernte ich für mich in Seminaren, die ich besuchen durfte. Zumindest dann nicht, wenn diese Ekstase als Erwartungshaltung daherkommt. Denn dann tarnte sich bei mir meist auch eher eine Flucht dahinter. Selbst das „Ins Spüren kommen“, das mir Tantra nahegebracht hat, kann zur Flucht werden, wenn ich mich gegenüber meiner Umwelt abschotte. Und dann nur noch dieses Ich-bezogene Spüren im Sinn habe, statt die Verbindung.
Danke auch für deine reflektierten Worte zum Thema Konflikte. Es hat mich stark verunsichert, wie unachtsam gerade die tantrische Szene hier teilweise war, etwa jenen gegenüber, die aufgrund von Krankheiten, Behinderungen etc. ein besonderes Schutzbedürfnis haben. Auch das war für mich ein Grund, für eine Weile keine Seminare mehr zu besuchen, weil ich wusste, dass nicht alle Teilnehmenden Verständnis für dieses Bedürfnis haben.