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Maithuna oder die Kunst der spirituellen Ekstase durch sexuelle Höhenflüge

 

Das Göttliche in uns

Ich möchte an dieser Stelle eine Schweinehirtin vorstellen, die im 8. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung gelebt und gewirkt hat. Im tropischen Dschungel Indiens weihte sie ihre SchülerInnen in der Kunst des tantrischen Maithuna-Rituals ein. Sie war eine buddhistische Gelehrte und hat ihren ursprünglichen Status als wohlhabende Weinlieferantin am Königshof eines lokalen Maharadschas hinter sich gelassen, um ein einfaches, naturnahes und lustbetontes Leben zu führen. In der Blütezeit des altindischen Tantra im Mittelalter haben entlaufene Prinzessinnen genauso wie ehemalige Prostituierte mitten in den Wäldern, fernab der indischen prüden Gesellschaft Tantraschulen gegründet, zu denen nur sehr hingebungsvolle und demütige Männer Zugang gewährt bekamen.

Sahajayoginichinta verfasste einige philosophische Schriften und aus einer davon sei hier zitiert. In ihrer philosophischen Abhandlung mit dem Titel „Erkenntnis der Wirklichkeit anhand ihres körperlichen Ausdrucks“, die dem buddhistischen Tantrayana zugeordnet wird, schreibt die Verfasserin, die nun längst eine Praktizierende des buddhistischen Tantra geworden ist und in dieser Praxis offensichtlich sehr intensive sexuelle Höhenflüge erlebt hat:

„Beide, [die Liebenden während eines Maithunarituals] sind durch einen Strom von Vorstellungen gebunden, die im Geist entstehen und aufsteigen. So lange sie aber vereinigt sind, wird ihr Geist an nichts anderes denken – sie sind allein der Wonne gewahr. Durch den Geschmack des Verlangens weiß man allmählich nicht mehr, wer der andere ist und was einem selbst geschieht. Die Liebenden erfahren unaussprechliche Seligkeit, wie sie es nie zuvor erlebt haben. Leidenschaftlich seufzend werden beide [zum Beispiel Mann und Frau], unabgelenkt durch irgendetwas anderes, überströmende, unübertreffliche Wonne erlangen und sie noch steigern. Sie erwachen aus dem Dunkel der Unwissenheit, indem sie sich an den reichen Aktivitäten der Glückseligkeit erfreuen und Seligkeit und Wonne entwickeln und steigern. Die menschliche Wonne mit ihren besonderen Merkmalen, ist eben das, was zu spiritueller Ekstase wird, wenn ihre Merkmale beseitigt sind, frei vom begrifflichen Denken, die Essenz der selbst erscheinenden Weisheit in sich. Wenn man die Paläste der Sinnesorgane betritt und die wundervollen Ekstasen erfährt, nimmt eben diese Welt den einen Geschmack spiritueller Ekstase an. Die heilige Glückseligkeit wird durch Wonne gefestigt, durch höheres Entzücken am Glück der anderen …“

Der hier zitterte kurze Textauszug spricht für sich. In der langen Geschichte des Tantra, in der innerhalb des eher prüden indischen Kastensystems die verschiedensten Richtungen entstanden sind, (weißes oder rotes Tantra, der Pfad der linken oder der rechten Hand) sind esoterisch anmutende Philosophien und komplexe Methoden entwickelt worden. Doch diese von der Einfachheit der Buddhistischen Lehre und einer natürlichen, liebevollen Sexualität inspirierte Schrift beschreibt es erfrischend unkompliziert: Wenn wir es wagen, uns in der Sexualität tief hinzugeben, wenn wir tiefe libidinöse Erregungszustände zulassen, löst sich unsere alltägliche Gewohnheit, eigene Unzulänglichkeiten auf andere zu projizieren auf. (Voraussetzung für das Gelingen tantrischer sexueller Begegnungen ist das ständige Trainieren unserer ganzkörperlichen Empfindsamkeit!)

Dass Sex auf jeder nur erdenklichen Ebene körperlich gesund macht, hat sich schon hinreichend herumgesprochen. Der Umstand, dass Sex – wenn er achtsam praktiziert wird – ein exzellentes Werkzeug zur Persönlichkeitsreifung sein kann, wird noch viel zu wenig beachtet. Das Göttliche in uns ist für praktizierende Tantriker die königliche Würde eines herzoffenen, sich selbst als heilig und lustvoll empfindenden Menschen.

Im Zustand der „aufsteigenden Wonnen“, wie es die Autorin bezeichnet, im Zustand hoher sexueller Erregung, etwa wenn wir über einen längeren, mehrstündigen oder gar mehrtägigen Zeitraum während einer andächtigen und liebevollen sexuellen Handlung multiple Orgasmen erleben, wandelt sich unsere neuronal-hormonelle Verfassung: wir werden zu geistig und körperlich wachen, lusterfüllten Liebenden.

Und dieser Prozess entfaltet seine spirituell heilsame Wirkung noch intensiver, wenn mehr als zwei Menschen daran beteiligt sind. Zum Handwerkszeug der sexuell betonten tantrischen Schulen gehören auch sexuelle Gruppenerfahrungen, etwa die des Chakra Puja, eines Kreisrituals, bei dem die Sexualpartner nach vorher festgelegten  Zeitabläufen immer wieder gewechselt werden.

Und immer spielen dabei Glückshormone eine wesentliche Rolle. Beispielsweise kann das Liebes- Vertrauens- und Verbundenheitshormon Oxytocin, das im Körper bereits nach einer 20 Sekunden dauernden Umarmung ausgeschüttet wird, eine ganze Gruppe von Menschen in tiefe Verbundenheitsgefühle bringen, etwa schon bei der Teilnahme an einer so genannten „Kuschelparty“. Je länger und intimer die Begegnungen sind, desto mehr wird von diesem therapeutisch hochwirksamen neuronalen Botenstoff ausgeschüttet.

Ob zu zweit, zu dritt oder zu mehreren erlebt – eine lustvoll und herzoffen praktizierte Sexualität lässt uns das Göttliche in allen unseren Sexualpartnern erkennen, am Ende in allen Menschen. Sie lässt uns mit einem offenen, undogmatischen Geist solidarisches Denken, Fühlen und Handeln entfalten.

Bevor es aber soweit ist, solch tiefe tantrisch sexuelle Erfahrungen machen zu können, befreien sich Tantriker durch eine lebenslange Praxis der Selbsterkenntnis und der Meditation von den sogenannten, wie es die tantrischen Buddhisten bezeichnen, „Geistesgiften“, wie etwa Hass, Neid Eifersucht, Gier, Verblendung und Furcht. All diese von uns oft noch nicht einmal als solche erkannten, geschweige denn bearbeiteten psychologischen Sollbruchstellen machen aus unserem Leben oft ein Jammertal voller Verzicht, voller Habgier, voller Vorurteile. Intellektuelle Irrungen und Wirrungen begleiten diesen oft chronischen gesellschaftlichen Zustand, der für Menschen meist nur eine tiefgreifende Auswirkung hat: Liebeskummer.

Mit diesen Themen setze ich mich ausführlich in meinem Buch Hautgeflüster, der zärtliche Weltfrieden auseinander. Es kommen auch die modernen Wissenschaften zu Wort, die viele der Arbeitshypothesen die Tantra aufstellt, als plausibel erkennbar werden lassen.

Der wesentliche Schlüssel für eine, wie moderne Tantriker es bezeichnen, „überpersönliche Liebe“, die solch befreiende, in meinem Buch auch fotografierte sexuelle Freizügigkeiten erst möglich machen, heißt: Verehrung. Sie ermöglicht eine überpersönliche Liebe, die frei ist von jeglichen durch patriarchale Kulturen geschaffenen Beziehungsideologien.

 

Verehrung, rituelle Haltung und Bindu, der Punkt, mit dem alles beginnt

„In dir verehre ich das Göttliche, egal, wie alt du bist, welche Hautfarbe du hast, ob du Frau bist oder Mann und welchen gesellschaftlichen Stellenwert du hast oder ob du an irgendeinen Gott glaubst. Ich verehre in dir deine besten Eigenschaften, selbst, wenn du diese in deinem Alltag noch nicht ganz verwirklicht hast. Ich verehre jeden Teil deines Körpers, deine Sehnsucht nach Zärtlichkeit und nach tiefer Lust, deine Geschlechtsorgane.“

So oder ähnlich wird die Verehrung in einer tantrischen Zeremonie oder einem sexuellen Vereinigungs-Ritual durch geschmeidig ausgeführte Gesten und eine ritualisierte Sprache ausgedrückt. Beides sind psychologische Werkzeuge, die es erleichtern, eine von Klarheit und Bewusstheit getragene andächtige Gefühlsstimmung zu erzeugen. Durch ihre überpersönliche, von allen persönlichen Eigenarten der Teilnehmer befreite Art des Ausdrucks können die Beteiligten ihren Selbstzweifeln sowie Unsicherheiten kreativer begegnen. Der farbige Punkt, der auf die Stirn gesetzt wird, in der altindischen Gelehrtensprache ›Bindu‹ genannt, soll auf diese Weise die eigene Reinheit, die eigene Güte, die eigene Kraft, die grenzenlose Liebes- und Lustfähigkeit in der Selbstwahrnehmung und in der Wahrnehmung durch andere, psychisch verankern. Wird unser Gegenüber auf diese Weise im Zustand einer inneren andächtigen Haltung und jenseits üblicher Schönheits- und Werturteile verehrt, so werden durch diese rituell erzeugte konsequente Gefühlsoffenheit auch das eigene Selbst und die ganze Existenz angebetet. „Ich bete dich an“, sagen manchmal Verliebte leidenschaftlich.

Was unser Alltagsdenken als einen oft ersehnten, aber selten erreichten Zufall abtut, ist für Tantriker das Ergebnis einer bewussten Entscheidung. Im Kontext tantrisch-ritueller Praktiken lässt sich diese innere, verehrende, kontemplative Haltung aller Beteiligten in der jeweiligen, konkreten Erfahrung als gegenwärtig, als existent empfinden, von Mal zu Mal tiefer, wie in einem verhaltenstherapeutischen Training, bei dem verehrende und intime Gefühle von Therapiesitzung zu Therapiesitzung nach und nach zugelassen werden. Es eröffnet sich eine poetische Sichtweise der Dinge. Man könnte sagen, tantrische sexuelle Begegnungen sind in die Tat umgesetzte Poesien der grenzenlosen Verbundenheit und Freiheit zugleich und verlieren selbst in der ausgelassensten sexuellen Gruppensituation nicht ihre Würde, ihre Heiligkeit, wenn die Haltung der herzoffenen Verehrung bewahrt und von Begegnung zu Begegnung noch vertieft wird.

Siehe auch hautgefluester-buch.de

 

Text: Saranam Ludvik Mann

Webseite: https://diamond-lotus.de/

Maithuna oder die Kunst der spirituellen Ekstase
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