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Maithuna: Eine Erfahrung

 

Maithuna.
Endlich freier Sex, sagen die einen – und ein spirituelles Mäntelchen hat er obendrein!
Mühsam, sagen die anderen. Wer soll so lang aufrecht sitzen können?!
Maithuna! Ist das nicht das mit den vielen Stellungen?, fragen die Dritten.
Oh … Maithuna … nix für mich. Da muss doch dauernd jeder mit jedem, und es dauert ewig – wo bleibt da der Spaß! Stöhnen die nächsten, aber keineswegs vor Wonne.

Maithuna bedeutet Vereinigung – und gemeint ist Vereinigung auf allen Ebenen. Sie umfasst den Körper und den Geist und weist einen Weg hinaus aus den alltäglichen Verstrickungen der Dualität: Bereitwilliges Einswerden mit allem, was ist. Zu dem was ist gehören Gefühle wie Ängste, Hoffnungen oder auch tief eingegrabene Persönlichkeitsmuster; weiters physische Freuden wie etwa Lust, sowie Leiden (z.B. Knieschmerzen) und die prächtige, lästige, unüberspürbare Präsenz meines Gegenübers.

Maithuna vermitteln zu wollen, bevor die Zuhörenden es selbst erfahren haben, muss zwangsläufig misslingen: man kann den Geschmack einer unbekannten Frucht nicht treffend beschreiben. Und doch gibt es manchmal besondere Momente, wo man wider besseres Wissen Unmögliches versucht.
2013, während eines Maithuna-Rituals einer unserer fortgeschrittenen Gruppen, wurde ich Zeugin eines dieser Momente. Ich konnte nicht anders als niederzuschreiben was ich sah, was sich vor meinen staunenden Blicken in diesem stillen Raum jenseits der Zeit entfaltete. Ich wagte kaum zu atmen, um die spiegelglatte Oberfläche des Seins nicht aufzuwühlen: da war etwas, das ich nicht benennen konnte und doch brennend wünschte festzuhalten – so bleibend, wie man mit der Fingerspitze ein Herz malt auf eine behauchte Fensterscheibe.

Als ich Jahre später an meiner Doktorarbeit schrieb, wollte ich diesen Text als Einleitung allem anderen voranstellen. Ich tat es dann doch nicht: Er ist zu intim, und nur wenige würden verstehen.
Vielleicht hat er aber hier und jetzt einen guten Rahmen gefunden.

Die Sonne scheint durch das eine unverhängte Fenster und malt ein wanderndes Muster der Zeit auf den honiggelben Holzboden. Achtzehn Kerzen sind im Raum verteilt – je eine neben jedem und jeder. Grüppchen von drei oder vier sitzen auf bequemen Matten. Jede wahrnehmbare Bewegung geschieht sehr bewusst, wie in Zeitlupe; sorgfältig ausgewählte Musik begleitet ihren inneren und äußeren Rhythmus.

Leise Berührung, behutsame Hände, offene Blicke.
Bedingungslose Präsenz, die keine Worte braucht.
Lächeln und Seufzer, trautes Schnurren.
Augenpaare die sich schließen, um dann wieder ineinander zu versinken.
Nichts hat Eile. Kein Ziel ist spürbar.
Alles entfaltet sich in natürlichem Fließen, so als hätte die Zeit aufgehört.

Später werden sie fragen, wie viele Stunden sie in diesem Zustand verbracht haben. Oder, noch wahrscheinlicher, sie werden gar nicht fragen.

Wenn jemand von ihnen auf ein inneres Hindernis stößt, so wissen alle, dass niemand Rettungsversuche starten wird: Jede einzelne ist selbst für sich zuständig und kompetente Expertin für die eigenen Bedürfnisse. Manchmal verliert sich jemand im Labyrinth der eigenen Widerstände, des Wollens und Nichtwollens. Dann vertrauen die anderen darauf, dass derjenige den Weg zurück zu sich und ihnen finden wird – in seiner Zeit.

Sie geben jemanden, der momentan die Mitte verloren hat, aber auch nicht auf: sie bleiben aufmerksam, herzlich, entspannt. Sie übernehmen keine Verantwortung füreinander, aber sie halten einander treu die Türen offen.

Die Männer müssen sich nicht beweisen: sie haben gelernt, dem Fluss des Moments zu folgen und ihrem Körper und Geist zu vertrauen. Was ist, ist; was nicht ist, ist nicht. Es gibt nichts zu optimieren.

Die Frauen zeigen weder Stress noch Befangenheit: sie fühlen sich offensichtlich wohl in ihrem Körper, unabhängig von seinem Erscheinungsbild; jede ist in ihrer ganz persönlichen Souveränität präsent. Manchmal gibt es Momente atemloser Stille, dann wieder Feuerwerke von Energie, Kichern und herzhaftes Lachen; manchmal fließen Tränen.

Die Übenden sprechen nicht, mit Ausnahme der alten, ritualisierten Formeln. Meditative Zustände wechseln sich ab mit Ausbrüchen sprühender Leichtigkeit; Minuten – oder sind es Stunden? – stiller Versunkenheit, gemeinsam oder ganz für sich, münden in brausende Wellen hochenergetischer Interaktion. Spielerisch und immer wieder neu entdeckend, freuen sie sich in aller Unschuld an den Empfindungen, die ihre Wunder-vollen Körper ihnen schenken.

Später werden sie über tiefe Einsichten berichten, das schillernde Kaleidoskop immer neuer Emotionen, über Verhaltensweisen, die sie an sich beobachten konnten – befreiende Erkenntnisse, die sie in ihren Alltag mitnehmen.

In diesem Moment aber sehen sie aus als wären sie unsterblich verliebt und zutiefst verbunden mit ihren zufällig  zusammengelosten Gruppenmitgliedern, und während sie auf dieser Matte sind und das Ritual andauert, sind sie es tatsächlich: in Liebe, seufzend, lachend, weinend, in Staunen verstummend.

Das Bild, das sich in diesem Raum eröffnet, ist so intim, geheimnisvoll und Ewiges berührend, dass ich kaum hinzusehen wage.

So irgendwie stelle ich mir Erwachen vor.

 

© Dr. Helena Krivan, 2018

Dr. Helena Krivan hat 1996 das Wiener Institut Namasté mitbegründet. In seinem Rahmen designt und leitet sie seitdem Tantra-Seminare, macht systemische Aufstellungsarbeit und bildet für beides Trainer*innen aus. Daneben schreibt sie, betreut ein buddhistisches Zentrum in Wien und pendelt zwischen Österreich und Kanada.

Text: Helena Krivan

Website: www.tantra.at

 

Maithuna: Eine Erfahrung
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Helena Krivan

Dr. Helena Krivan, Life Coach, dipl. Sexualpädagogin, Aufstellungsleiterin, Tantralehrerin und Autorin. Seit 1997 Co-Leitung des Instituts Namasté für Persönlichkeitsentwicklung und Tantra. Lebt und arbeitet in Österreich und Kanada.

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6 thoughts on “Maithuna: Eine Erfahrung

  • 27. Juli 2018 um 14:45
    Permalink

    Liebe Helena, vielen Dank für deine einfühlsamen Sätze und Erklärungen von dem scheinbar Unbeschreiblichen.
    Ich lese immer wieder gerne von Dir, weil du mir so natürlich und verständlich schreibst. Für mich vermitteln deine Ausführungen eine Art von Beteiligung und Erlebnis. Besser geht es für mein Empfinden nicht.
    Gerne möchte ich Auszüge deiner schriftlich verfassten Gedanken und Erklärungen in meine Homepage und in meinen Facebook Gruppen mit Quellen und Autoren Nennung einfließen lassen.
    Über dein Einverständnis würde ich mich sehr freuen.
    Mit Grüßen die von Herzen kommen.
    Charly

    Antworten
    • 10. November 2020 um 12:08
      Permalink

      Lieber Charly,
      wau, sorry – habe deine Nachricht eben erst hier entdeckt. Sollten wir in der Zwischenzeit nicht gesprochen haben und deine Anfrage noch aktuell sein, kontaktiere mich doch einfach per @.
      Lieben Gruß
      Helena

      Antworten
  • 10. November 2020 um 9:16
    Permalink

    Hallo! Vielen Dank für die schöne Schilderung dieses wundervollen Rituals. Ich suche nach dem Sanskrit amen für die Zeugin/den Zeugen.
    Ist der Name Ihnen vllt bekannt?
    Über Nachricht freue ich mich sehr!
    Liebe Grüße von Nhanga

    Antworten

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