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Als ich die Frage zur aktuellen Ausgabe des Tantranetz Blogs, „Braucht Tantra Rituale?“, las, war meine spontane Reaktion: selbstverständlich! Tantra braucht Rituale, genauso wie das Leben im allgemeinen Rituale braucht. Wozu wäre da ein weitschweifigerer Text nötig? Und dennoch erscheint es stets lohnend, sich zu vergegenwärtigen, bewusster zu machen, wie Wörter in Sätzen über die Welt verwendet werden.

Um eindeutiger, zweifelloser entscheiden zu können, ob ich einer bestimmten Aussage Wahrheit zusprechen möchte, oder nicht. Ob dieses Gefühl des Wahrheitsgehaltes eventuell sogar mit der genaueren Verwendung eines Wortes verbunden ist. Wie etwa beim Satz: Reife Kirschen sind rot. Wenn mir jemand eine Schale reifer Kirschen zeigt, könnte sie mir dadurch vielleicht vermitteln wollen, was unter der Farbe Rot zu verstehen ist. Oder ich bekomme eine Farbpalette mit verschiedenen Rottönen, und soll entscheiden, welche der Kirschen vermutlich reif sind. Dann würde damit der Begriff reife Kirsche genauer eingegrenzt. Auch wenn nach einem englischen Sprichwort der Beweis eines Puddings letztendlich darin liegt ihn zu essen.

So möchte ich im Folgenden also die verwendeten Wörter etwas näher unter die Lupe nehmen. Um zu beleuchten, zu präzisieren, was ich unter dem zitierten Satz verstehen möchte. Bevor ich meine letzte Antwort gebe. Entstehen nicht häufig Konflikte erst durch mangelnden Austausch über die Verwendung von Wörtern, fehlende Qualität und Achtsamkeit in der Kommunikation? Über die Körpersprache hinaus, zeichnet die hochentwickelte, verbale Kommunikation unser Menschsein augenfällig aus, ist ein zentraler Bestandteil darin liebevolle Verbindung herzustellen, und sollte deshalb mit besonderer Bedacht behandelt werden. Behutsamen, sorgsamen Umgang erfahren.

Brauchen scheint mir das am leichtesten zugängliche Wort im obigen Satz zu sein, obwohl sich selbst über seine Verwendung eifrig debattieren lässt. Was braucht der Mensch? Hierzu könnte einem rasch Luft zum Atmen, Wasser, oder Nahrung, einfallen. Neben der Liebe. Aber wirklich brauchen würde der Mensch Luft, Wasser und Nahrung nur, wenn genauer ausgeführt wird, dass er auch überleben möchte. Ohne diesen Zusatz käme er, für jeweils unterschiedliche Zeiträume, auch ohne Atem, Wasser und Nahrung aus. Nur würde dann, eine gewisse Zeit später, sein Menschsein enden. Ein besserer, treffenderer Satz, der das Wort brauchen benutzt, wäre also zum Beispiel: Zum längerfristigen Überleben braucht der Mensch Luft, Wasser und Nahrung.

Wenn schon dieses vermeintlich einfache, offensichtliche Beispiel Raum für beträchtliche Sophistereien lässt, ist es natürlich mit unserem Satz „Braucht Tantra Rituale?“ umso komplizierter. Bis zu dieser Stelle, im Lichte des bisher Geschriebenen, würde ich jetzt also sagen: natürlich nicht! Oder zumindest, ein Tantra ohne Rituale hätte andere Bedeutung, wie ein Tantra mit Ritualen.

Womit wir beim Begriff des Rituales wären. Darunter möchte ich eine Handlung verstehen, die stets nach festen, vorgegebenen Regeln abläuft. Also einen hohen Wiedererkennungswert hat. Im Alltag stattfindet, oder zu weniger alltäglichen Momenten. Und eher profanen Charakter haben kann, oder feierlicheren, festlichen, sakralen. Ein weltliches Beispiel etwa wäre der Tennisspieler, der vorm Aufschlag immer den Ball eine bestimmte Anzahl von Malen aufspringen lässt, oder eine andere, verinnerlichte Bewegung ausführt. Ein feierliches die festgelegten Abläufe bei einer japanischen Teezeremonie. Und ein sakrales die rituelle Waschung im Verlauf der christlichen Taufe. Die aufgeführten Beispiele deuten auch schon die vielfältigen Funktionen an, die Rituale einnehmen können. So können automatisierte Bewegungsabläufe, wie etwa im Sport, Sicherheit vermitteln. Der rituelle Ablauf kann, wie in der Teezeremonie, den festlichen Charakter und Symbolgehalt der Handlung verstärken. Und Rituale können in spirituellem, oder religiösem Rahmen, das Gemeinschaftsgefühl stärken, oder wie bei der Taufe der Initiation, der Aufnahme in eine Glaubensgemeinschaft, dienen. Die Zugehörigkeit zu einer ausgewählten Gruppe bekräftigen.

Bevor ich abschließend erkunde welche Funktion Rituale in tantrischen Begegnungen haben können, möchte ich als Letztes kurz auf meine eigene Sicht des Tantra eingehen. Diese Auffassung habe ich schon in einem vorangegangenen Beitrag ausführlicher dargestellt. Für mich ist Tantra ein Werkzeug, ein Vehikel des individuellen Wachstums, das die Verbindung des Menschen zur Welt, der Natur, anderen Menschen, stärker, intensiver werden lässt, und insofern auch die Liebe mehrt. Wobei das Anwachsen der Liebe für mich der zentrale, der bedeutsamste Aspekt ist. Dieses Wachstum wird erreicht durch Achtsamkeit, Bewusstheit, Meditation, im Umgang mit der Welt, der Natur, und im besonderen, mir selbst und der Begegnung mit anderen Menschen. Der achtsame, meditative Zugang ermöglicht es, die Stimme des Verstandes leiser und leiser werden zu lassen, und die der Intuition, des Herzens, immer maßgeblicher, gewichtiger. Sodass unvoreingenommene, herzliche, liebevolle Begegnungen mit anderen Menschen vollkommen natürlich werden. Unabhängig von jeglicher Vorgeschichte.

Wie könnten Rituale nun in diesem Zusammenhang hilfreich sein? Zum einen verleihen Rituale ein Gefühl von Sicherheit. Ich bin mit den Abläufen vertraut, das Denken, oder sogar instinktive, unwillkürliche Reaktionen, welche leicht bei unerwarteten Geschehnissen die Oberhand gewinnen, können stiller werde, zurücktreten, und das intuitive Gefühl, die Stimme des Herzens, mehr Raum einnehmen. Mich leiten. Dann erhöhen Rituale natürlich den festlichen Charakter einer tantrischen Begegnung, und können so beträchtlich zum Wohlbefinden aller Beteiligten beitragen. Das Gefühl für die Einzigartigkeit, Unwiederbringlichkeit eines jeden Momentes verleihen.

Und nicht zuletzt haben Rituale im Tantra auch einen sakralen, spirituellen, transzendenten Aspekt. Zur Transformation des weltlichen Wesens in ein Individuum, welches seine Individualität und Geschichte mehr und mehr hinter sich lässt, und zu einem unverzichtbaren Teil der Gesamtheit wird. Dem Göttlichen. Unserem Universum. So gesehen nehmen Rituale in tantrischen Begegnungen also alle oben besprochenen Funktionen wahr. Kurz gefasst geben sie Halt und ermöglichen Wandlung. Das über uns selbst Hinauswachsen. Womit ich bei meiner letzten Antwort angelangt wäre: Ja, Tantra braucht Rituale, wäre für mich ohne Rituale kein Tantra. Und nun mag die geneigte Leserin, der geneigte Leser, gerne weiter über die Aussage, Tantra wäre kein Tantra, sinnieren.

Text: Matthias Jamin

English Version (PDF)

Halt und Wandlung
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Matthias Jamin

Matthias Jamin ist Jahrgang 1962, promovierter Physiker, und arbeitete hauptsächlich in der wissenschaftlichen Forschung zu Grundlagen der Materie, fundamentalen Wechselwirkungen und Elementarteilchenphysik. Sein spiritueller Weg führte seit Mitte der 1990er Jahre über Meditation in Zen und Vipassana Tradition 2015 zum Tantra, mit dem er sich neben der Physik seitdem intensiver beschäftigt. Darüber hinaus verbringt er mit Begeisterung einen Teil seiner Freizeit in den faszinierenden Weiten der Unterwasserwelt.

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