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„Mich schüttelt der Liebesgott wie im Gebirge der Wind die unerschütterliche Eiche“ (Sappho von Lesbos)

Der Aufstieg war geruhsam und schweigend. Wir zwei sind im Rhythmus des Atems gelaufen, ohne Hast. Der Atem schwingt synchron mit den Schritten in einem eigenen, nicht erdachten Zusammenspiel, aber auch im Zusammenklang miteinander, zwischen Mensch und Mensch.

Dennoch ist dies hier weder eine wohlige Wanderung noch ein nettes tête-à-tête – auch kein esoterisches Waldbaden, Pranaatmen, Selbstlieberitual oder Outdoor-Sex mit sich selbst (und irgendwie ist es doch eine transformierte, würzig-erfrischende Mischung aus allem). Wir sind der Kundalini auf der Spur, der sexuellen, erotischen, kreativen power, die unseren Planeten durchzieht wie ein Netz ätherisch-feuriger Adern und die sexuelle Kraft in uns nährt. Was wir spüren wollen, ist die Wildheit, die da draußen alles in Balance bringt und für Wachstum sorgt, und die das auch in uns tut. Nur: „da draußen“ ist es sichtbar, fühlbar, greifbar, hat es in die Form von Blättern, Blüten, Früchten, Tieren und sinnigen, vitalisierenden Verflechtungen. Es ist wie ein Bad in unseren Ursprüngen, sich hineinzubegeben in den Eros der Elemente, in die Spannkraft und Lebensfreude der Natur.

Wir strecken unsere unsichtbaren Fühler und Antennen aus, öffnen die Poren, fühlen uns allmählich empfindsam bis in die Haarspitzen. Wir schweigen, atmen und lassen uns treiben hinein in die, die heilige Hildegard von Bingen nannte es so, Grünkraft.

Es ist noch früh am Morgen, nur wenige Wanderer sind uns begegnet. Die meisten sind, wie wir, um diese Zeit in sich gekehrt und nur mit dem Weg, dem Wald, dem kühlen Brausen des nahen Bergbachs verbunden, die sie in morgendlichem Frieden fast für sich haben.

Im Unterschied zu den anderen ist unser Ziel jedoch kein Gipfel, keine einladende Alm samt Apfelstrudel oder eine neue persönliche Bestzeit – wir lassen uns führen, ziehen und leiten von einem Ruf, den wir beim Losgehen eingeladen haben zu uns zu sprechen. Und der Ruf ist laut.

Er lockt uns abseits des kleinen Pfades kreuz und quer über die Almwiese, um riesige Felsbrocken herum, manchmal ziehen wir diese Kreise auch öfter und Heiterkeit breitet sich in uns aus angesichts dieser verschlungenen, sinnbefreiten, scheinbar ziellosen Wege – es ist ein Spiel mit dem Gelände, den dort wohnende spirits, ein Tanz mit Bäumen, kleinen Buckeln und all den Gewächsen, die der Fuß streift – bis wir den Ort gefunden haben, an dem wir uns niederlassen.

Allein diese Sequenz des Suchens und solch einen geheimen Platz zu finden, ist aufregend und erinnert uns wahrscheinlich an Zeiten, an denen wir Menschen uns Orte des Rückzugs in der Natur gesucht haben – um zu lieben, zu schweigen, zu kontemplieren, einen besonderen Lebensmoment zu feiern.

Diesmal ist dieser besondere Fleck Erde nah an einer Felswand, etwas erhöht. Hier stehen nur wenige Bäume und der Blick weitet sich hinaus übers noch leicht und scheu vernebelte Chiemgau. Wir ziehen, mit ausgebreiteten Armen uns drehend, einen sinnlich-leichten Kreis um uns, segnen den Ort mit den Händen auf der Erde, bevor wir uns niederlassen, und schon liegen wir lachend im Gras.

Die haltlose Freude, die meine Schüler an diesem Punkt zuverlässig überkommt (und auch mich), ist einer der schönsten Momente in diesem Ritual. Ich sehe ihm/ihr zu, wie Schichten von Sorgen, Emotionen, Ballast, schwere Schicksalsschläge, schwierige Entscheidungen und körperliche Kummerfalten sich auflösen, hinunter perlen ins Moos, wie da ein Mensch sitzt, leuchtend, erleichtert, klar, einfach eine Form ohne Bemalung und immer mehr auch ohne Inhalt, denn der beginnt sich nun, während ich diese Form sanft zu erfühlen beginne, hinaus in die Landschaft zu verströmen.

An dieser Stelle wird es interessant, denn wir könnten nun in ein, sagen wir „gewöhnliches“ schamanisches Ritual eintauchen, die Elemente spüren, spirits rufen und Visionen heraufbeschwören. Hier, wo sich Schamanismus und Tantrismus zart berühren, nehmen wir nun unsere wesentliche Abfahrt ins konkret körperlich Sinnliche, und die Geschenke anzunehmen, die Eros uns durch Flora und Fauna offeriert.

Der Schüler sitzt aufrecht vor mir. Ich berühre seine Stirn, die Stellen am Schädel, in die meine Fingerspitzen wie eintauchen können – der Kopf neigt sich nach hinten, die Augen schließen sich hingebungsvoll. Der Kehlkopf öffnet sich, seufzt, singt, tönt. Manchmal rollen Tränen – das Herz wird weich, der Körper sucht den Boden, den Kontakt mit Erde und Urgrund. Die Hände streicheln die Steine. Die Sonne glänzt auf einmal in und auf allem, was uns umgibt.

Lass dich berühren. Wie berührst du die Natur, und damit auch DEINE Natur, denn alles ist ja so vielbesungenermaßen EINS – wie begreifst, verstehst, deutest du DICH? Und inwieweit, wie weit, wie tief, lässt du dich berühren?
Wie deutlich sprechen die sinnlichen, kreativen Kräfte, die Pheromone, Lockstoffe, die überall aufploppenden Pilze, der betörende Blumenduft, die Rufe der Vögel, all die archaischen Laute der Tierwelt, all diese Ausdrucksweisen eines schöpferischen Universums, zu dir? Hallt es in dir wider? Und pulsiert und strömt da in dir auch, irgendwo – die tiefe, reine, klare Lust des Seins, die orchestriert und liebkost wird vom warmen Herbstwind, vom Rauschen der vielen kleinen Wasserfälle, die du in jedem Gebirge findest, zu jeder Jahreszeit?

Die Natur tut nichts anderes als sich ständig erneuern, vervielfältigen, verströmen und weitergeben in die nächste Generation von Erscheinung. Die Kundalini, die der Materie am nächsten stehende Energieform in unserem Körper, geht in Resonanz mit den erotischen Kräften der Natur. Das schärft die Sinne, weitet die Instinkte, vervielfältigt die sinnliche Wahrnehmung und bringt uns in einen lustvollen, unschuldigen Hingabezustand, den wir kaum noch kennen heutzutage. Er greift tief ein in die sexuelle Selbstwahrnehmung und verbindet uns gleichzeitig mit der Schöpferkraft des Universums.

F. umfasst innig den kleinen Findling vor dem er kniet, ich bedecke seinen Rücken mit meinem Körper, eine große Umarmung entsteht, in der er immer friedlicher und sanfter zu atmen beginnt, bis er beinahe einschläft.

A. lehnt mit dem nackten Rücken an einem Baum, die feine Borke schabt und reibt zart im Rhythmus eines leichten Tanzes an ihrer Haut. Ihr Blick verliert sich oben zwischen den herbstlichen, goldenen Birkenblättern und sanftem Himmelsblau.

Wohlig windet sich C. schlangengleich entrückt im Moos, sein Kopf ruht in meinem Schoß, die Augen sind vertrauensvoll geschlossen.

G. ergibt sich, nachdem sie einfach lange Zeit einfach nur träumend auf der Waldlichtung zusammengerollt lag, ihrer Sinnlichkeit mit der Stirn an eine Wurzel gepresst, mit festem, genießerischem Griff in die frischen Gräser. Ihr leises Seufzen klingt beinahe ekstatisch.

Jeder Mensch reagiert anders auf die aphrodisierenden Angebote der Wildnis. Mein Anliegen ist es, nicht beim stillen Meditieren zu verweilen, sondern tatsächlich und aktiv in sie einzutreten, Teil zu werden der Lebendigkeit, deren Sinn es ist, sich erneuernd und verbessernd immer weiterzugeben, von einem Stadium ins nächste. Metamorphose für Metamorphose.

Was alles daraus in die eigene Biographie übertragbar ist, in die eigene Lustbarkeit und Lebendigkeit, ins eigene Fühlen, in die Sexualität und ins Beziehungsleben – das ist natürlich hoch individuell und läuft nicht nach Vorgabe und Plan. Durch Erforschen, Spielen und den Mut zum im positivsten Sinne Animalischen, Archaischen, wird dieses schwingungserhöhende tantrische Ritual mit sich selbst zu einem einzigartigen liebevollen Akt und Inspirationsquell.

Für ein tantrisches Ritual in der Natur brauchen wir weder Öle noch Kerzen, Musik oder Federn – es sei denn, wir finden letztere gerade und werden dadurch inspiriert. Nackte Haut ist gut, aber kein Muss. Tantra funktioniert auch dick und warm eingepackt mit Handschuhen und Mütze im Schnee. Was es braucht sind sichere Orte, Schutz durch eine/n Raumhalter/in und Koordinator/in, der/die wachsam bleibt und ungebetene Beobachter fern hält, sichere Ortskenntnis besitzt sowie die Phantasie und das Wissen, einen Ritualraum outdoor zu erschaffen. Er/sie taucht mit dem Suchenden zusammen in dessen jeweilige Choreographie, den Traumtanz, dessen tantrische Verbundenheit ein und unterstützt sie durch Körperkontakt, Halt, Bewegung, Reize und sinnliche Anregungen.

Bei Sonnenuntergang gehen wir nach Hause. Manchmal Hand in Hand, manchmal jede/r für sich. Ein zufriedenes Lächeln strahlt aus den Augen, die Gesichtszüge sind entspannt, die Körpersprache ist locker, der Gang frei, und auch wenn es regnen sollte, würde das nicht die Stimmung trüben. Es wäre einfach eine weitere willkommene Zutat zu diesem Tag, die wir hinein nähmen in alles Erlebte.
Zu reden gibt es in dieser Phase nichts, das kommt dann meist ein paar Tage später. Dann treffen wir uns auch zu einer Nachbesprechung auf einen Tee. Bei der Gelegenheit machen wir auch den nächsten Termin aus und halten fest, was erlebt wurde, wie es sich integrieren lässt, wie sich die neue Erfahrung anfühlt und wie sich das Selbstgefühl verändert hat. Was wir weiter vertiefen und verstehen wollen. Wie die Menschen im Umfeld reagieren, wie das Beziehungsnetz sich bewegt unter dem stärkenden Einfluss des natürlichen Eros.
Doch nun erstmal: Alles Gute für deinen Heimweg. Sichere Fahrt und eine sanfte Landung daheim.

Text: anonym

Der Eros der Elemente – tantrische Rituale in der Natur
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