Über Erwartungen, Offenheit und Fragen, die relevant sind
Seit mehr als 30 Jahren beschäftige ich mich nun mit Tantra und wer mich kennt, weiß darüber Bescheid. Doch noch immer kommt es vor, dass mal wieder die Frage aufkommt: „Und was machst du so, beruflich, meine ich?“ Wenn ich dann den Begriff Tantra erwähne, herrscht oft erstmal betretenes Schweigen. Oder: „Ach so!“ gepaart mit wissendem Lächeln. Und dann folgt in aller Regel ein Themenwechsel. Das geht wohl nicht nur mir so. Von Teilnehmer*innen meiner Seminare höre ich immer wieder: „Ich kann nur sehr wenigen erzählen, dass ich Tantra mache. Wenn die das hören …“
Wenn wir von den verbreiteten Klischees und Vorurteilen über Tantra ausgehen, müssten wir wohl auf die Frage „Ist Tantra drin, wo Tantra draufsteht?“ antworten: „Mein Gott, hoffentlich nicht!“ Weil der Begriff irreführend ist, habe ich ihn in meiner Außendarstellung immer weiter in den Hintergrund gerückt, aber es nützt natürlich nichts. Als Buchautor mit einem gewissen Bekanntheitsgrad komme ich aus der Schublade nicht mehr raus.
Tantrische Erwartungen
Zum Glück ist das für mich nicht wirklich ein Problem, denn die meisten meiner Kursteilnehmer*innen kommen auf Empfehlung und erwarten nicht in erster Linie, „dass Tantra drin ist“. Was immer das dann bedeuten würde. Mit einer solchen Erwartungshaltung habe ich nämlich nicht die besten Erfahrungen gemacht. Oft handelt es sich dabei um eine dieser beiden Varianten:
- Wenn wirklich Tantra drin ist, bekommt man ausreichend Gelegenheit für erotisch/sexuelle Begegnungen. Wenn niemand solche mit mir eingehen will, gibt es ja noch Assistentinnen, die so tantrisch geschult sind, dass sie niemanden zurückweisen werden …
- Wenn wirklich Tantra drin ist, dann bekommt man schon am ersten Wochenende eine hochspirituelle Schulung inklusive Einweihung, nach der man genau weiß, was wahres Tantra eigentlich ist.
Okay, ich übertreibe ein wenig, ich gebe es zu. Was ich damit verdeutlichen will: Wenn wir glauben zu wissen, was Tantra wirklich ist, befinden wir uns schon auf dem Holzweg. Vor Jahren gab es mal ein Tantra-Sonderheft der buddhistischen Zeitschrift Ursache und Wirkung. Darin verkündeten eine Reihe von namhaften Tantralehrer*innen mit jeweils großer Überzeugungskraft ihre Antwort auf die Frage: Was ist Tantra? Der Clou an der Sache: Jeder und jede verstand etwas Anderes, manchmal sogar gänzlich Gegensätzliches darunter. Aber alle schienen sich ihrer Sache recht sicher, manche fühlten sich gar berufen, vor den falschen Propheten bzw. Kolleg*innen zu warnen, die ihrerseits auf der nächsten Seite das Gleiche taten. Ich fand das durchaus amüsant.
Tantra ist ein schillernder, unbestimmter Begriff, da greift wohl jede Definition zu kurz. Außerdem ist die Frage viel zu bedeutsam, als dass wir sie mit einer klaren Antwort ruinieren sollten. Kürzlich begegnete ich einem interessanten Verständnis des Unterschiedes zwischen Religion und Spiritualität, das uns hier weiterhelfen kann:
- Religion gibt Antworten.
- Spiritualität stellt Fragen.
In diesem Sinne favorisiere ich Tantra als spirituelle Haltung dem Leben gegenüber, als Neugier auf uns selbst, auf einander, auf das Leben, auf die Liebe, auf den Tod, auf das, was alles im Innersten zusammenhält, und ja, auch auf unsere Sexualität.
Nicht Sex, sondern Offenheit
Die Offenheit, die wir im Tantra der Sexualität entgegenbringen, hat zu dem folgenreichen Irrtum geführt, Tantra sei eine besondere Form von Sex. Dabei ist Tantra die Offenheit und zwar eben nicht nur dem Sex gegenüber. Die meisten Menschen, die heute von Tantra hören, denken dabei an Tantramassage, so als handele es sich bei ihr um des Pudels Kern. Auch in einer kürzlich im WDR ausgestrahlten Dokumentation über Tantramassage wurden die Begriffe Tantra und Tantramassage synonym verwendet. Was für ein Witz! Tantra hat eine Jahrtausende alte Tradition, Tantramassage vielleicht ein paar Jahrzehnte.
Insbesondere bei Tantramassage hat die Frage „Ist auch Tantra drin, wenn‘s draufsteht?“ oft den Subtext: Werde ich auch sicher zum Happy End gebracht?“ Das hat dazu geführt, dass Tantramassage dem Prostitutionsgesetz unterworfen wurde, was so absurd wie stimmig ist.
- Absurd, weil zumindest eine kompetent und einfühlsam gegebene Tantramassage eben nicht auf den schnellen und garantierten Genuss aus ist, sondern eine gemeinsame Suchbewegung beinhaltet zu dem, was in uns lebendig ist. Zum Sein.
- Stimmig, weil sich ein verkanntes, unterschätztes, diskriminiertes Tantra vielleicht leichter selbst treu bleiben kann als ein gesellschaftskonformes Tantra, womöglich noch „staatlich anerkannt“.
Bei aller Unbestimmtheit kann Tantra durchaus radikal sein, an die Wurzeln gehen und dazu führen, dass wir liebgewordene Gewohnheiten hinterfragen, zugunsten tieferer Reife und Erfüllung. Auch wenn das „Ja zu dem, was ist“ in vieler Tantriker Munde ist, bedeutet es hoffentlich kein „Ja und Amen.“ Unsere Kultur könnte von Tantra enorm profitieren, aber sie scheint lebensbejahende Radikalität zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser.
Fragen, die relevant sind
Ich bin der Ansicht, dass es für die Qualität eines Seminares oder auch einer Massage weitgehend unerheblich ist, ob es sich um „echtes“ Tantra handelt:
- weil völlig offen ist – und wie ich finde offen bleiben sollte – was Tantra wirklich ist.
- weil für die Qualität möglicherweise ganz andere Fragen wichtig sind:
- Fühle ich mich gut begleitet?
- Werden meine Grenzen respektiert?
- Werde ich unterstützt, mir selbst und meinen Anliegen auf die Spur zu kommen oder wird mir etwas übergestülpt?
- Finde ich einen offenen Raum vor, in dem ich nicht gedrängt, sondern ermutigt werde, auf mein Herz zu hören, meiner Lust zu vertrauen, mich mit meinen Gefühlen anzufreunden, mit anderen Menschen so intim zu werden, wie es mir gerade entspricht und last not least: immer wieder innezuhalten, um in Kontakt zu kommen mit dem, was wirklich ist?
Ich wünsche mir, dass Menschen glänzende Augen bekommen, wenn sie Tantra hören. Dass sie damit die Hoffnung und/oder Erfahrung verknüpfen, sich selbst und den Mysterien des Lebens näher zu kommen. Dass sie davon so erfüllt sind, dass sie auf die Frage, was denn nun echtes Tantra sei, verständnisvoll lächeln und ihre Augen sprechen lassen.
Text: Saleem Matthias Riek
Website: www.schule-des-seins.de
“ Ich wünsche mir, dass Menschen glänzende Augen bekommen, wenn sie Tantra hören. Dass sie damit die Hoffnung und/oder Erfahrung verknüpfen, sich selbst und den Mysterien des Lebens näher zu kommen. Dass sie davon so erfüllt sind, dass sie auf die Frage, was denn nun echtes Tantra sei, verständnisvoll lächeln und ihre Augen sprechen lassen.“
… JA, das ist doch, was zählt!
Merci sehr für den Schlusssatz!!!
Lieber Saleem,
vielen Dank für diesen schönen Artikel. Stimmt, auf tantrischen Wegen habe ich schon viele Antworten gefunden und zugleich auch immer wieder neue Fragen. Das erinnert mich an die Wissenschaften, wo ich das genau so erlebt habe. Je mehr ich weiss, desto mehr weiss ich, dass ich nichts weiss. Vermutlich war Sokrates auch schon auf tantrischen Pfaden. 🙂
Danke auch für die kurze und prägnante Abgrenzung von Tantra und Tantramassage. Das wird tatsächlich selten sauber auseinandergehalten.
Ich freue mich, dich am 22.1.2020 zum Pododiumsgespräch (https://bit.ly/2OuHhfg) jenseits von Klischees mit weiteren Fragen/Antworten zu hören und hoffe, dass wir dadurch nicht alles zerstören?
Herzlich,
Daniel von Liebensfreude
Lieber Saleem,
vielen Dank für deinen sehr klaren Text, der hier deutlich macht, dass Endeutiges in unserer „Sprachwelt“
nie eindeutig sein kann und gleichzeitig die alten Texte und der ganze Kulturkreis von Hinduismus und vor allem Buddhismus, aus dem Tantra entstanden ist, Grundlagen bieten, die heute überall auf der Welt tiefes Verstehen
und Freiheit begründet haben. Wir gehen heut aufrechten Hauptes als Anbieter von einer spirituellen Sexualität,
die nur einen Teil des Tantra ausmacht, auf Interessierte zu. Es gibt in der Weltgeschichte der großen Namen in Wirklichkeit viele Tantrika, auch wenn diese davon nie gehört haben: Jean-Jaques Rousseau, Jesus von Nazareth, Sir Bertrand Russell, Gauthama Buddha, der 14. Dalai Lama, Eugen Drewermann, Sokrates, Erasmus von Rotterdam, Martin Luther King, Gerald Hüther, Andro, Bhagwan Shree Rajnesh, Noam Chomsky, Jean Ziegler, Diana Richardson, Daniel Odier…. uvm.
Eins was all diese Menschen verbindet, ist ihre Radikalität und ihre Freiheit.
Namaste, Chr. Ganesha Lauterbach
http://www.tantrasoma.de /Hamburg