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Bei den Tantra-Events von Regina Heckert gibt es eine Art des Rituals, das wir »Wanderritual« nennen. Dort werden die Teilnehmer der Rituale einander ‚per Zufall‘ zugeteilt, sie können sie nicht selbst bestimmen, und sie kommen nacheinander mit verschiedenen ‚Inkarnationen von Shiva oder Shakti‘ in Kontakt. Für die Leiter dieser Events hat das den Vorteil, dass das Problem der Partnerwahl dabei auf eine gute Art umgangen wird. Spirituell betrachtet aber ist es gar kein Problem, sondern eine Einladung in die Erfahrung des Transpersonalen, in das, was hinter der Person steht. 

Mit »Person« war einst die Maske des Schauspielers gemeint. Das Wort kommt aus dem Griechischen (von prosopon) oder Etruskischen (von phersu) und ist über das Latein zu uns gewandert. Es bezeichnet das, was durch uns durch tönt (per–sona) im Sinne von: Wir sind ein Sprachrohr oder Lautsprecher, ein Kanal, durch den etwas vermittelt wird. Etwas, das schon vor uns da war und nach uns da sein wird, und das ohne uns besteht. Wir können es das Natürliche, Archaische oder Göttliche nennen, das Numinose oder Universelle oder einfach »es« sagen statt »ich«. 

Wie auch immer wir es nennen, es wirken Kräfte durch uns hindurch, die wir nicht erfunden haben, und die wir, in einem enger gefassten, individuellen Sinn, auch nicht sind. Wir repräsentieren diese Kräfte nur und drücken sie auf individuell sehr verschiedene Weise aus, aber wir sind sie nicht in der Art, wie wir das Individuum sind, das unser persönlicher Name bezeichnet. Wir sind diese Kräfte in einem transpersonalen Sinn, so wie wir eben nicht nur die Petra und der Wilfried sind, die Ingrid und der Markus, die Leila und der Ahmed, sondern wir repräsentieren in jeder dieser Figuren Shakti und Shiva, das archaisch Weibliche und das archaisch Männliche. Wir sind nicht nur die einzigartige, unverwechselbare Person, sondern auch das, was durch sie hindurch tönt und fließt, das Transpersonale.

Magie des Zufalls

Der Ablauf des Wanderrituals ist nun so gestaltet, dass es die bei solchen Ritualen manchmal schwierige Partnerwahl, die für die Teilnehmer eine Überforderung sein kann, in folgender Weise vermeidet. In aufeinander aufbauenden Übungen werden jedem Teilnehmer drei bis fünf verschiedene Partner per Zufall zugewiesen; mit jedem dieser Partner macht er/sie eine andere kleine Übung. Hierbei sitzen entweder die Frauen oder die Männer auf je einer Matratze im großen Ritualraum und warten darauf, dass ihnen eine ihnen unbekannte Person des anderen Geschlechts zugeführt wird. Wenn die Frauen die Wartenden sind, werden die Männer gut vorbereitet auf das Event zeremoniell und schweigend hereingeführt in »den Tempel«. Die Männer folgen dann den Pfeilen, die als Kreppstreifen zwischen die Matratzen auf dem Fußboden geklebt wurden; diese zeigen ihnen den Weg, bis sie auf Anweisung zum Stehen kommen, jeder Shiva vor einer Shakti. Nun sieht er die ihm ‚von höheren Kräften‘ Zugewiesene. Vielleicht kennt er sie, vielleicht auch nicht. Wenn sie eine Augenbinde trägt oder die Augen geschlossen hält, sieht sie ihn noch nicht und weiß noch nicht, wer da vor ihr steht. Sie weiß nur: Es ist ein Mann. Eine individuelle, einzigartige Inkarnation von Shiva.

»Den Richtigen« abkriegen

So braucht niemand mehr zu befürchten »nicht den Richtigen abzukriegen«, denn dann jetzt schlägt sozusagen das Schicksal zu, der ‚heilige Zufall‘. Nicht mehr die Beliebtesten kriegen die Beliebtesten ab, wie sonst meist auf dem Markt der Möglichkeiten, sondern jeder hat gleich große Chancen. Jede Shakti ist dabei herausgefordert zu lernen, mit einem Gegenüber, den sie sich nicht ausgesucht hätte, ganz in die Wahrnehmung ihrer eigenen Gefühle zu tauchen und die eigenen Grenzen zu respektieren, die sie bei der Annäherung an diesen Partner hat. Jeder von ihnen ist genau der Richtige, um dir selbst treu zu sein und dabei genau so weit zu gehen, wie es für dich stimmt. Ebenso gilt für jeden Shiva: Die Shakti, die dir da gerade gegenübersitzt, ist genau »die Richtige« für dich. Wer diese Haltung noch nicht hat, kann sie erlernen. Das Wanderritual ist eine Übung in dieser Haltung, eine Übung der Hingabe an das Göttliche aka Natürliche, an die Ordnung des Kosmos, wie sie sich jetzt gerade mir gegenüber zeigt.

Stellvertreter

Wie bei den systemischen Aufstellungen können wir auch im tantrischen Ritual die Menschen, denen wir begegnen, als Repräsentanten verstehen. Dann sind sie nicht mehr nur die Personen, als die sie sonst im Leben gelten, sondern sie repräsentieren für den Betrachter, was dieser in ihr sieht. Er gibt ihnen erst die Bedeutung, die sie für ihn haben. Sie kann in dem Shiva ihr gegenüber alle Männer sehen, denen sie je begegnet ist und noch begegnen wird, und er in der Shakti vor ihm alle Frauen, mit denen er je etwas zu tun hatte, zu tun haben wollte und noch haben wird. Dann ist diese Begegnung zugleich zeitlos und transpersonal. Und wenn ich beim »Wandern«, beim Wechsel zum nächsten Shiva oder der nächsten Shakti in diesem Ritual, mich von dieser Person wieder löse, ähnelt das dem Lösen von einer Figur, der ich als Stellvertreter in einer systemischen Aufstellung gegenüberstehe. Jetzt gerade, in dieser Aufstellung, in diesem Tantraritual, bin ich diese eine Facette des Menschenmöglichen. In der nächsten Aufstellung, ebenso wie hier im Ritual bei der nächsten Shakti oder dem nächsten Shiva, bin ich wieder ein anderer, eine andere Facette des Menschenmöglichen.

Tantra in der Paarbeziehung

Das Wanderritual ist nicht nur gut geeignet, Singles über den Rand ihres Partnersuchbildes hinausschauen zu lassen, es ist auch geeignet, Paarbeziehungen zu stärken. Denn jeder Mann begegnet in seiner Frau Shakti, die alle Facetten des Weiblichen enthält, und sie in ihm Shiva, der alle Facetten des Männlichen in sich hat. So kann das Wanderritual in einer sonst flach, schal oder profan gewordenen Beziehung die religiöse Dimension wieder erwecken, die vielleicht nach der anfänglichen Verliebtheit im Lauf der Jahre verduftet ist. Oder es eröffnet diese Dimension überhaupt erst, wenn sie bisher noch nicht da war. Es kann sie stärken, fördern und erweitern. Wir können die Begegnung mit anderen Menschen in diesem Ritual als Erweiterung unserer Fähigkeit verstehen, im anderen mehr zu erkennen als nur das Gewohnte, das manchmal in Routinen Erstarrte, die den Eros vertreiben, die Neugier, die Freude, den Zauber des Anfangs. 

Sugata (Wolf Schneider), Gründer und ehemaliger Herausgeber der Tantra Specials und des Tantra-Newsletters. Seit 2020 Co-Leiter im BeFree-Tantra©www.connection.desugata@connection.de

Im Ritual dem Transpersonalen begegnen
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Wolf Schneider

Wolf Sugata Schneider, Jg. 52. Autor, Redakteur, Kabarettist. 1971-75 Studium generale an der Uni München. 1976 buddh. Mönch in Thailand. 1977 Initiation durch Osho. 1979-81 Ausbildung durch Veeresh. Gründung der spirituellen Gemeinschaften Divya Ashram (1980) und Connectionhaus (1991). 1985-2015 Hrsg. der Zeitschrift Connection Spirit und der Connection Tantra Specials. Seit 2007 Theaterspiel, Kabarett und Humorworkshops.

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