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JA und NEIN sagen

Erfahrungen aus der tantrischen Arbeit

Die Bandbreite, die ich selbst als Teilnehmer in Tantra-Seminaren erlebt habe, reicht von „es auszuprobieren, mal die kleine Fußzehe über die Grenzlinie zu setzen“ bis zum „sanften Darüberschubsen“.

Ich finde es absolut essentiell, Grenzen zu respektieren. Gerade durch frühere Erfahrungen von Grenzüberschreitung, die sich bis in die frühe Kindheit erstrecken, brauchen Menschen eine Sicherheit, dass Grenzen respektiert werden, um sich aus diesem Gefühl von Sicherheit weiter hinaus wagen zu können. Und wenn jemand „noch nicht soweit ist“, sich hinauszuwagen, dann ist er/sie eben noch nicht soweit. Es gibt natürlich auch ein „Verstecken“ hinter Grenzen, was Kontakte auch verhindern kann. Manchmal ist zunächst das Bedürfnis nach Schutz größer als das Bedürfnis nach Begegnung und Kontakt. Auch das gilt es zunächst anzuerkennen und ehrlich JA dazu zu sagen.

Gerade im sensiblen Bereich von Erotik und Sexualität sind Grenzen sehr wichtig. Im Zusammenhang mit der aktuellen „me-too“ Debatte ist das Thema Grenzüberschreitungen momentan ziemlich präsent. Hier wird von massiven Grenzüberschreitungen berichtet, die oft jahrelang zurückliegen.

Manche Menschen haben gar nicht gelernt, eigene Grenzen zu setzen, aus Angst den anderen zu verlieren, aus Angst, ein NEIN bedeutet gleichzeitig den Beziehungsabbruch. Dabei muss ein NEIN zur jeweiligen Situation nicht gleichzeitig ein NEIN zur ganzen Person des Gegenübers bedeuten. Es bedeutet nur: „Diese Erfahrung möchte ich gerade nicht mit dir machen.“ Ein NEIN zum Gegenüber bedeutet schließlich gleichzeitig auch ein JA zu mir selbst. Und oft verwandelt sich ein NEIN später in ein JA, wenn das NEIN erst einmal gehört und respektiert wird. Das kann nach Augenblicken, Stunden oder Tagen sein. Ich darf mir erlauben, dass sich das auch verändern kann und nicht für alle Zeiten festgeschrieben ist. Und oft sind die Begegnungen mit einem Gegenüber, zu dem ich zunächst ein NEIN hatte, die spannendsten und lehrreichsten. Und wenn in einer Begegnung nichts anderes möglich ist, als sich einfach nur gegenüberzusitzen und miteinander zu sein, kann auch dies eine sehr tiefgreifende Erfahrung sein.

Auch ist es wichtig, die Wahrnehmung eigener Grenzen zu schulen und überhaupt erst wieder ein Gespür dafür zu entwickeln. Das gilt natürlich z.B. in einem Berührungsritual nicht nur für die / den Empfangende/n, sondern auch für den / die Gebende/n. Es kommt vor, dass (in der Mehrzahl) Teilnehmerinnen, aber auch Teilnehmer nach einer Übung oder einer Begegnung merken, dass sie über ihre Grenze gegangen sind und dass es sich im Nachhinein nicht mehr stimmig anfühlt „So wollte ich das ja eigentlich nicht“, … . Im jeweiligen Moment konnten sie die Grenzüberschreitung entweder nicht spüren oder haben sie „übergangen“. Hier gilt es, die Aufmerksamkeit zu schulen, sensibler zu werden und innezuhalten. Dazu nutzen wir die Zimbel, die während einer Übung erklingt, um jede/n einzuladen, zu spüren, ob er / sie am richtigen Platz ist, um gegebenenfalls etwas zu verändern. Auch eine Übung, die sich Ja / Nein / Mehr / Auf Wiedersehen nennt, kann helfen, genau mit diesen Möglichkeiten zu experimentieren. Einfach lernen, dass es erlaubt ist, NEIN zu sagen und es sogar das Gegenüber unterstützt, die / der sich darauf verlassen kann, dass die / der andere für sich sorgt und die Verantwortung für sich übernimmt. Aber diese Übung lehrt auch, JA zu sagen, wenn sich die Situation schön und stimmig anfühlt. Es kann oft noch schwieriger sein, JA zu sagen als NEIN, wenn ich mich mit dem zeige, was ich möchte.

Niemand kann jedoch jemand anderem die Verantwortung für ihre/ seine Grenzen abnehmen. In einem Tantra-Seminar kann lediglich ein geschützter Rahmen geboten werden, innerhalb dessen mit Grenzen experimentiert und neue Erfahrungen gemacht werden können. Und auch ich selbst als Leiter darf mich darin üben, mir meiner eigenen Grenzen bewusst zu sein.

 

Text: Norbert Seipel

Webseite: www.prano-tantra.de

JA und NEIN sagen

Norbert Seipel

Norbert Seipel, Jahrgang 1965, hauptberuflich Sozialpädagoge im betreuten Wohnen, praktiziert seit 20 Jahren mit Freude Tantra und leitet seit 2011 selbst Seminare und Abende in Darmstadt (www.prano-tantra.de). Sein Hauptlehrer ist Saleem Riek (Schule des Seins), aber auch andere Anbieter haben ihn beeinflusst.

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